Abschaffel
genau, daß die Scham in seinem Körper umherruckte und nach einem Platz suchte, wo sie bleiben konnte. Auf ihrem Weg durch den Körper kam sie auch durch seinen Hals, und zwei oder drei Sekunden lang spürte er ein Würgen in der Kehle. Er suchte seinen Trainingsanzug im Koffer. Ein Trainingsanzug, wie lächerlich! Er zog ihn an und meinte, ihn nicht anziehen zu können. Er hätte es darauf anlegen können, an diesen Waldläufen nicht teilzunehmen. Aber er wollte es einmal versuchen, weil er fast sicher war, daß ihm das Laufen Spaß machte. In diesen Augenblicken vergaß er seinen Finnland-Unsinn, und er nahm an, daß die Scham nun eine Bleibe im Körper gefunden hatte. Aber wo war sie abgeblieben? Nahm die Scham immer denselben Platz ein oder durchsetzte sie alle Körperteile? Als Abschaffel sich im Trainingsanzug im Spiegel erblickte, entstand neue Scham. Setzte sich die Trainingsanzugsscham nun zur Finnland-Scham? Oder paßten die beiden nicht zusammen, und die Trainingsanzugsscham mußte sich eine andere Stelle suchen? Er stellte sich vor, daß die Scham (außerdem der Zorn, die Wut, die Reue, die Angst) kleine, immerzu überfüllte Herbergen in seinem Körper unterhielt, und das System aus Abgängen und Zugängen aus diesen Herbergen war oft so bewegt, daß er selbst, der Körper Abschaffel, kaum noch richtig gehen konnte. Warum fiel er denn nun auseinander in eine Person, die wahrscheinlich Freude am Waldlauf haben würde, und in eine andere, die keinen Trainingsanzug am Leib haben wollte? Mehrmals zog er den Reißverschluß am Oberteil herauf und wieder herunter, mehrmals dehnte er das Gummi am Hosenbund und ließ es zurückschnellen, und unendlich langsam bereitete sein Körper den Stoff der Gewöhnung vor, der es ihm endlich erlaubte, sich nicht mehr an diesem schwarzen, wollenen Trainingsanzug zu stoßen.
Draußen war es angenehm frisch, kühl und sonnig. Abschaffel befand sich in einer Gruppe von acht Patienten. Alle trugen Trainingsanzüge oder andere Sportbekleidung. Frau Hollinger, die Gymnastiklehrerin, rieb sich die Hände aneinander und machte ein paar aufmunternde Bemerkungen. Der bevorstehende Dauerlauf erstreckte sich über vier Kilometer. Es war ein Rundweg; am Ende des Laufs würden sie wieder bei der Klinik ankommen. An den Gipfeln der Berge hing Nebel und zerzauste sich an den Tannenspitzen. An einigen Stellen zog sich der Nebel herunter bis in die Täler. Die Erde auf den Feldern war schwer und naß. Da und dort war der Schnee eisig und grau geworden.
Der Wald war still, und bald hörte Abschaffel sein eigenes Keuchen. Die Gruppe der acht laufenden Patienten war weit auseinandergezogen. Abschaffel hielt den Mund offen, weil er glaubte, mehr und mehr Luft zu brauchen. Seine Atemstöße waren zuerst kurz und heftig und gingen bald in ein lautes, stoßendes Pressen über. Schon nach etwa einem Kilometer spürte er, wie ihn das Laufen anstrengte. Vielleicht würde er die vier Kilometer nicht schaffen. Wer nicht mehr laufen konnte, sollte normal zurückgehen, hatte Frau Hollinger gesagt. Abschaffel hatte das Gefühl, mit jedem weiteren Schritt sackte sein Körpergewicht in die Beine ab. Es erstaunte ihn, wie leicht und beweglich hingegen der Oberkörper wurde. Auch die Arme fühlten sich überraschend leicht an. Der Körper war naß und heiß, die Haare klebten auf dem Kopf, und der Schweiß rann an den Ohren entlang in den Kragen des Trainingsanzugs. Erleichternd empfand er, daß er während des Laufens nichts dachte, nichts erinnerte und, außer den unmittelbaren Reaktionen des Laufens selbst, nichts fühlte. Die ganze Welt der Einbildungen, Erinnerungen und Zustände verflüchtigte sich aus dem Kopf in die Wälder, und dies mit einer solchen Vollständigkeit, daß er die angenehme Leere seines Kopfes fast ergreifend empfand. War der Sport deshalb bei den Menschen so beliebt, weil der Kopf leergeschüttelt wurde wie ein altes Kissen? In keiner anderen Situation seines Lebens war Abschaffel eine derartig unmittelbare Erleichterung vergönnt. Er hielt das Gesicht hoch und sah durch die blattlosen, hageren Wipfel der Laubbäume in den klaren, hellblauen Himmel. Er konnte nicht die ganze Strecke ohne Unterbrechung durchlaufen. Nach ungefähr der Hälfte legte er eine Pause ein. Er stemmte sich mit beiden ausgestreckten Armen gegen einen Baumstamm und atmete heftig ein und aus. Die Beine fühlten sich an, als hätten sie keine Knochen. Minutenlang pochte das Herz und schlug das Blut in seinem
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