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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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junge Müllmann wieder auf dem Trittbrett, fuhr der Wagen auch schon an und hielt vor dem nächsten Hof. Abschaffel öffnete das Fenster. Er hörte von ferne den reißenden Ton einer Kreissäge; wenn der Ton aussetzte, war es sofort still. Abschaffel überlegte, ob das Geräusch der Kreissäge dazu beitrug, das Zusammengehörigkeitsgefühl der im Tal wohnenden Leute zu festigen oder nicht. Warteten sie vielleicht morgens auf das erste Aufschreien der Kreissäge? Er sah dem Müllwagen nach. Obwohl es nur der Müllwagen war, der immer kleiner wurde, glaubte er nach einer Weile, es verschwinde gleich die ganze Welt in diesem engen Tal, und er war der erste, der es bemerkte. Mußte er nicht losrennen und es allen Leuten sagen? Er überlegte, ob er gleich zu Dagmar gehen sollte. Aber vielleicht war sie gar nicht in ihrem Zimmer, wenn er früher kam. Es überfiel ihn eine starke Sehnsucht nach Frankfurt, nach Kaufhäusern, nach Fernsehapparaten, nach Imbiß-Stuben und erleuchteten Unterführungen. In der Radio- und Fernsehabteilung eines großen Kaufhauses wollte er wieder einmal herumstehen und herumgehen. Er wollte inmitten von tausend Kofferradios, Batterien, Verbindungskabeln, Steckern, Mikrofonen, Kopfhörern und elektrischer Ersatzteile sein. Er brauchte alle diese Dinge nicht, im Gegenteil, er verachtete sie, aber er wollte sehen, daß es sie gab. Besonders die vielen schon am Spätnachmittag eingeschalteten Fernsehapparate wollte er sehen, die neben- und übereinander auf langen Regalen aufgebaut waren, und in jedem Gerät zuckte das farbige Testbild immer wieder neu auf den Schirm. An diesen bunten Schirmen wollte er entlanggehen und die Gewißheit haben, daß die Welt immer eingeschaltet war. Dann wollte er das Kaufhaus verlassen und sofort in ein anderes gehen. Vorher aber wollte er sich am Eingang eine Brezel kaufen, die er aufaß, während er durch das zweite Kaufhaus schlenderte. Und während des Gehens würde er Krumen, Krustenstücke und Salzkörner der Brezel im Kaufhaus verlieren, und manchmal würde er sich umdrehen, um die Spur zu betrachten, die er durch das Kaufhaus zog.
    Er verließ sein Zimmer und fuhr mit dem Fahrstuhl hoch zu Dagmar. Sie war überrascht, aber freundlich, als sie ihn sah. Sie stand mit aufgekrempelten Ärmeln am Waschbecken und wusch Unterwäsche. Sie trocknete sich die Hände ab und kam auf ihn zu und küßte ihn. Er störte sich an dem seifigen Geruch, der von ihrem Körper ausging, aber er sagte nichts. Sollen wir ein bißchen spazierengehen? fragte sie. Wohin? fragte er zurück; im Wald oder im Dorf? Mir ist es egal, sagte sie; ich kenne einen hübschen Weg, der an einer Wiese mit Apfelbäumen vorbeiführt. Gut, sagte er, gehen wir diesen Weg, die Hauptsache für mich ist, ich muß nicht an Tannen vorbeigehen. Die magst du nicht? fragte sie. Nein, es ist mir zu dunkel, ich sehe nichts, und dann kriege ich Beklemmungen. Aber ich brauche noch eine halbe Stunde, bis ich fertig bin, sagte sie. Das macht nichts, sagte er. Gehst du nicht gern ins Dorf? fragte sie. Es langweilt mich, sagte er. Bist du schon überall gewesen? Ich glaube schon, sagte er und legte sich auf ihr Bett. Ich muß mir ein Paar Schuhe kaufen, gehst du mit? fragte sie. Ja, sagte er, ich kann dir sagen, wo das Schuhgeschäft ist. Das weiß ich auch, sagte sie und lachte; dazu brauche ich dich nicht. Du mußt aufpassen, daß ich mir wirklich schöne Schuhe kaufe. Wenn ich allein bin und etwas für mich einkaufe, dann sind es am Ende immer ganz spröde Sachen, als müßte ich eine evangelische Gemeindeschwester aus mir machen. Sie lachten, und Dagmar beugte sich wieder über das Waschbecken. Zwischen ihren zu Fäusten zusammengeballten Händen rieb sie eine Unterhose, die sie immer wieder rasch in das Seifenwasser eintauchte. Ihre langen Haare fielen nach vorn und verdeckten die Seiten ihres Gesichts. Dafür wurde das ihm zugewandte Ohr frei, das weich und samtig aus den dunklen Haaren hervorragte. Dagmar rieb die Unterhose und stöhnte dabei wie eine alte Mutter.
    Abschaffel lag auf dem Bett und sah ihr zu. Ihre scheuernden, ribbelnden Bewegungen erinnerten ihn an seinen Vater, wenn er sich die Zähne putzte. Der Vater hatte sich Zähne und Zahnfleisch verdorben, weil er sich die Zähne jahrelang mit dem Reinigungsmittel VIM geputzt hatte, das die Mutter sonst nur für die Reinigung von Kacheln, Töpfen und Waschbecken benutzte. Nach dem Krieg hielt der Vater richtige Zahnpasta für neumodischen Luxus, auf den er

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