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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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dessen mit Kartoffeln und Nudeln abgespeist. Und er hat sich abspeisen lassen: mit innerer Wut und Bitterkeit. Als ich in einem Alter war, wo man auf so etwas achtet, also mit zehn oder elf, da ist mir aufgefallen, daß ich meine Eltern niemals gemeinsam in einem Bett habe liegen sehen. Die Mutter ging dazu über, auf der Couch im Wohnzimmer zu übernachten. Der Vater ging abends allein in das Schlafzimmer und kam morgens allein heraus. Das Bett neben ihm, das Bett meiner Mutter, blieb unbenützt. Das Bett war ein Bild der Unberührbarkeit geworden: eine riesige weiße Bettdecke, ein glattes, immer kaltes Kissen mit vier spitzen Ecken, faltenlos gebügelt, rundlich und symmetrisch aufgebaut. Es war, als hätte sich meine Mutter in das Bett selbst verwandelt, weil das Bett ihre eisige Lustlosigkeit viel besser darstellen konnte als sie selbst. Und es ist für mich schwer begreiflich, wie es mein Vater seit Jahren fertigbringt, neben diesem Altar Nacht für Nacht zu schlafen. Wie sie ihm so etwas antun konnte.
    Abschaffel machte eine Pause. Dr. Buddenberg erhob sich und schloß das Oberlichtfenster. Mit vorsichtigen Schritten ging er um den Patientenstuhl herum und nahm wieder in seinem Sessel Platz. Als es wieder ganz still war, fuhr Abschaffel mit leiser Stimme fort: Als ich schon zwei oder drei Jahre von meinen Eltern weg war, habe ich sie einmal besucht und bei ihnen übernachtet. Geschlafen habe ich auf der Couch im Wohnzimmer, auf der sonst immer die Mutter schlief, und sie übernachtete ausnahmsweise neben dem Vater. Kurz vor dem Schlafengehen kam sie im Nachthemd noch einmal zu mir ins Wohnzimmer. Ich lag schon auf der als Bett hergerichteten Couch. Sie ging zum Schrank und öffnete die rechte untere Tür. Zum Vorschein kam ein großer, runder, zuckriger Apfelkuchen. Sie zeigte mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den Apfelkuchen und sagte: Wenn du heute nacht etwas willst, kannst du dir davon nehmen. Sie schloß die Schranktür wieder, lächelte mich an und verließ das Wohnzimmer. Ich habe eine fürchterliche Wut gekriegt. Was sie beim Vater schon hingekriegt hatte, versuchte sie nun auch bei mir. Wenn ich heute nacht etwas will! rief Abschaffel. Wenn ich meine Sexualität spüre, sollte ich essen, meinte die Mutter. Am liebsten hätte ich ihr geantwortet: Leider kann ich nicht in einen Apfelkuchen hineinvögeln, aber natürlich habe ich nichts gesagt. Am nächsten Morgen kam sie in das Wohnzimmer, lächelte mir zu und sah wieder in den Schrank. Vom Apfelkuchen fehlte kein Stück. Den kannst du heute mit nach Hause nehmen, sagte sie freundlich. Den ganzen Apfelkuchen? fragte ich zurück. Ja, ich habe ihn für dich gemacht, sagte sie. Und Vater? fragte ich zurück. Wenn der das wüßte, sagte sie lächelnd.
    Ich war fassungslos. Ihrem Mann hatte sie inzwischen sogar den Ersatz gestrichen. Später packte sie den Apfelkuchen sorgfältig ein, verstaute ihn in einer Plastiktüte und gab ihn mir mit. Ich hatte nicht den Mut und nicht die Kraft, den Apfelkuchen zurückzuweisen. Ich fühlte mich beschämt und gedemütigt. Ich konnte ihr ja nicht sagen, daß ich sie durchschaut hatte. Es war gräßlich. Immerhin ist es mir gelungen, den Apfelkuchen samt Plastiktüte eine Stunde später in irgendeinen Papierkorb zu werfen. Obwohl der Apfelkuchen für mich ja nichts weiter war als ein Apfelkuchen. Verrückt, ihn in einen Papierkorb zu werfen. Aber als ich nach vielen Wochen meine Eltern wieder einmal besuchte, hat sie sich prompt erkundigt, wie mir der Kuchen geschmeckt hat, und ich habe mich lobend geäußert.
    Es war noch einmal gräßlich. Aber die Eltern hören ja nicht auf, ihren Kindern Niederlagen beizubringen, sagte Abschaffel seufzend. Und fast jedesmal, wenn ich heute etwas zu schnell oder etwas zuviel esse, erinnere ich mich an den Vater. Manchmal ist es so intensiv, daß ich meine, ich selbst wäre mein Vater, und ich spüre Lust, meine Mutter zu suchen und sie zu schlagen.
    Die Stunde war zu Ende. Abschaffel streckte sich und erhob sich. Er ging sofort in sein Zimmer und ruhte sich aus. Später wollte er zu Dagmar. Er setzte sich an das Fenster und sah in die Landschaft. Weit unten fuhr ein Müllwagen von Bauernhof zu Bauernhof. Ein junger Müllmann stand hinten auf dem Trittbrett und sprang jedesmal herunter, wenn der Wagen hielt. Er mußte die Mülltonnen an den Wagen heranziehen und sie in eine Vorrichtung hängen, damit sie in die Höhe gehoben und in den Wagen entleert werden konnten. Kaum stand der

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