Abschaffel
er in den nächsten Tagen seine Hemden abholen. Er schrieb sich einen kleinen Zettel und steckte ihn in seine Brieftasche. Ich kann die Hemden ja nicht einfach hierlassen, dachte er. Wenn du in die Reinigung gehst, dann verkleinerst du dich wieder selbst, so daß von dir überhaupt nichts übrigbleibt, was? Von der Reinigung hatte Dagmar gar nicht gesprochen. Irgend etwas brachte er falsch zusammen oder durcheinander. Er zwang sich, an nichts zu denken und sich an nichts zu erinnern. Er nahm einen Stuhl und setzte sich an das Fenster. Sie hat selbst gesagt, daß sie zuviel redet, weil sie in ihrer Jugend nicht hat reden dürfen, fing er wieder an, sich etwas zu denken. Vielleicht hat sie mich einfach niederreden müssen. Vielleicht aber auch nicht.
Am frühen Abend kam Dagmar überraschend in sein Zimmer. Er war erstaunt und versuchte freundlich zu sein. Kommst du mit ins Dorf, fragte sie ernst. Gibt es dort etwas? fragte er zurück. So etwas Ähnliches wie Kinderfasnacht auf den Straßen, das ist Brauch hier, sagte sie. Er zögerte. Er konnte Fasnacht und alles, was damit zusammenhing, insbesondere Umzüge und alle Arten von Menschenansammlungen auf Straßen, nicht gut aushalten. Aber weil die Stimmung zwischen Dagmar und ihm gespannt und besserungsbedürftig war, entschloß er sich, mit ihr zu gehen. Rasch kleidete er sich an, Dagmar wartete draußen auf dem Flur. Auf dem Weg ins Dorf sprachen sie wenig. Und wenn sie etwas sagten, dann in einem fremden, distanzierten Tonfall.
Auf dem Dorfplatz wimmelte es von Menschen. Kinder und Jugendliche waren weit in der Überzahl; sie trugen weiße Gewänder, entweder ausgediente Frauennachthemden oder Tageshemden von Männern. Auf den Köpfen trugen sie lange Schlafmützen mit Bommeln dran. Viele Kinder hatten sich an Stelle der Schlafmützen Unterhosen über den Kopf gezogen. Jedes Kind hatte einen blechernen Topf in der Hand oder an einer Schnur um den Hals hängen, in der anderen Hand einen Kochlöffel, mit dem sie in den Töpfen schlugen. Dagmar und Abschaffel drückten sich an Hauswänden und Mauern entlang. Der Marktplatz war hell erleuchtet. Ein paar Würstchenbuden und Weinstände waren aufgestellt, und auf den Rathaustreppen spielte eine Musikkapelle. Blecherner Lärm dröhnte durch Sattlach. Am Bahnhof sammelten sich die Kinder und stellten sich zu einem Zug auf. Dagmar strich geschickt zwischen den Leuten hindurch. Sie wollte anscheinend in die Nähe des Bahnhofs gelangen und den Zug von dort aus seitlich begleiten. Manchmal sah sie hinter sich. Abschaffel bereute still, daß er mitgegangen war. Endlich waren sie in der Nähe des Bahnhofs angelangt, wo sich eben der Kinderzug in Bewegung setzte. Der blecherne Lärm war in der Nähe des Zugs so stark, daß Abschaffel sich die Ohren zuhalten mußte. Niemand hielt sich die Ohren zu, und Abschaffel spürte, daß er sich unpassend verhielt. Denn der Lärm war ein Teil des Brauchtums an diesem Abend, und wer diesen Lärm nicht hören wollte, gab zu verstehen, daß er das Ereignis nicht verstand. Langsam schritten Dagmar und Abschaffel mit dem Kinderzug einher. Eltern und Angehörige säumten die Straße und riefen winkend in den Zug hinein, wenn sie ihr Kind entdeckt hatten. Manchmal unterbrachen die Kinder das Klopfen und Schlagen und riefen im Chor: Hoorig isch der Bär, und wenn er net so hoorig wär, wär er au kei Bär. Die Spitze des Zugs war schon vor der Tür des Rathauses angelangt. Abschaffel überlegte, ob er sich von Dagmar verabschieden sollte. Immer mehr Kinder und Halbwüchsige drängten auf den Platz. Jedes Kind, das im Zug mitgelaufen war, sollte eine heiße Wurst mit Wecken bekommen. Die Kapelle spielte laut und schmetternd. Die Musiker trugen Trachtenanzüge, grüne Jacken und weiße, enge Hosen. Jemand schrie über den Platz, daß es keine Würste mehr gebe. Einige Männer lachten, aber unter den Kindern entstand Unruhe und Drängeln. Viele von ihnen sahen sich schon um ihre Belohnung gebracht: Wie gut Abschaffel diese Kinderunruhe verstand! Einige Kinder jammerten und heulten schon. Über Lautsprecher ertönte eine Stimme und versicherte, daß jedes Kind eine Wurst bekommen werde. Plötzlich sorgte sich Abschaffel, eines der Kinder könne verlorengehen. Solange sie in der hellen Beleuchtung des Marktplatzes blieben, waren sie leicht zu sehen und konnten als vorhanden gelten. Sobald sie aus den Lichtbündeln heraustraten, waren sie wie weggetaucht. Einigen Kindern bereitete es Spaß, aus der
Weitere Kostenlose Bücher