Abschaffel
damit man dich weder langweilt noch enttäuscht? Er lachte. Du kennst mich so gut, daß ich mich beinahe fürchten muß, sagte er. Dann müssen wir die Frage anders stellen, sagte sie; was muß man also tun, damit man dich nicht langweilt und nicht enttäuscht, und was muß auf jeden Fall unterbleiben, damit du keine Angst kriegst? Das sind Fragen, sagte er, die stelle ich mir gewöhnlich nur selbst. Und darüber bist du eigentlich schon wieder fast enttäuscht? Möglich, sagte er ausweichend. Auf der rechten Seite des Weges sammelte sich das Schneewasser zu einem kleinen Bach. Rechts und links knackten manchmal dünne Äste. Es war nicht zu bestimmen, woher diese Geräusche kamen. Es war nur das Gestrüpp nasser, schwarz glänzender Äste und Stämme zu sehen.
Nach etwa zweihundert Metern führte der Weg aus dem Wald hinaus. Links und rechts streckten sich leicht abschüssige Obstbaumfelder. Die fleckige Schneedecke war hier oben noch dünner. Ein harter, lautloser Wind strich über die Felder. Dagmar stellte ihren Mantelkragen hoch und drückte sich die vorderen Enden des Kragens gegen das Gesicht. Abschaffel trat vorsichtig in vereiste Pfützen, weil er das Splittern des Eises hören wollte. Fast alle Obstbäume, die zehn bis fünfzehn Meter weit auseinanderstanden, hatten schiefe Stämme. Drüben, auf dem Abhang des gegenüberliegenden Berges, stieg Rauch aus dem Schornstein eines Bauernhauses. Ich bin froh, sagte Abschaffel, daß ich diese Apfelbäume nur im Winter sehen muß. Warum? fragte Dagmar. Ich habe mir gerade vorgestellt, sagte er, ich wäre im Sommer hier. Ich liefe hier herum und würde die voll tragenden Apfelbäume sehen. Und wenn ich diese schönen roten Äpfel an diesen vielen Bäumen sähe, dann würde ich wahrscheinlich denken: Ahh, endlich kann ich einmal soviel Äpfel einsammeln, wie ich schon immer wollte. Und ich würde sofort mit dem Ernten beginnen, sagte er, aber wenn ich den ersten Apfel gegessen hätte, müßte ich feststellen, daß ich überhaupt nicht mehr gewollt hätte, als nur einen einzigen Apfel. Und das wäre dann die Enttäuschung, sagte er. Ich verstehe nicht, was dich enttäuscht, sagte Dagmar. Die Fülle und der Irrtum, der der Fülle zugrunde liegt, sagte er. Daß du viele Äpfel brauchst, um festzustellen, daß du nur einen einzigen haben willst? fragte sie. Ja, nein, antwortete er und wurde unsicher. Oder, sagte sie, daß dich deine Wünsche so in die Irre führen? Wieso in die Irre? fragte er. Du hast doch eben selbst von Irrtum gesprochen, sagte sie. Eben habe ich noch ganz genau gewußt, wie sich alles zueinander verhält und wie ich es sagen könnte, und jetzt kann ich es nicht mehr, sagte er. Könnte es sein, fragte sie, daß du noch nicht einmal einen einzigen Apfel haben willst, das aber nur merken kannst, wenn du sehr viele Äpfel siehst und sie alle haben möchtest? Er schwieg. Von den Äpfeln, die in meinem Zimmer liegen, hast du dir jedenfalls noch niemals einen genommen, sagte sie. Darauf wußte er nichts zu sagen. Es kommt auf die Übertriebenheit der Erscheinung an, sagte er. Wenn drei oder vier Äpfel in einem Korb liegen, sagte sie, dann wird davon deine Wunschkraft einfach nicht angeregt? Vielleicht, sagte er. Es müssen immer gleich ganze Bäume voller Äpfel sein, sagte sie.
Das Gespräch wurde ihm unbehaglich. Am liebsten hätte er um einen Abbruch gebeten oder einfach von etwas anderem zu reden angefangen, aber das traute er sich nicht. Er fühlte, daß er sich an der unerwarteten Schärfe von Dagmars Sätzen zu verletzen begann. Es ist immer noch nicht klar, warum du enttäuscht wärst, fing sie wieder an. Also du meinst, sagte er angestrengt, daß ich überhaupt keinen Apfel will, keinen einzigen? Ich nehme es an, sagte sie; du willst immer nur die Übertriebenheit deiner Wünsche entdecken und nach Möglichkeit entfernen, aber dann bleibt von dir überhaupt nichts mehr übrig, und das ist das Problem.
Vom anderen Ende des Weges kam ihnen ein Mopedfahrer entgegen. Abschaffel war erleichtert und beobachtete ihn. Er trug eine dicke Jacke mit Kapuze. Um den Kopf hatte er sich einen langen Wollschal gewickelt, der nur die Augen und die Stirn frei ließ. Abschaffel drehte sich um, als er an ihnen vorbeifuhr, und er sah, daß auf dem Gepäckträger des Mopeds eine alte Aktentasche mit einem Gummiband festgeschnallt war. Er sah der Aktentasche auf dem Gepäckträger lange nach, und als sie ganz klein war und kaum noch zu erkennen, fiel er sich selbst
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