Abschaffel
berichtete. Gezeigt wurde ein anscheinend totes Lebewesen, das bewegungslos auf einer staubigen, ausgetrockneten Landstraße lag. Abschaffel strengte sich an, das klumpige Ding zu erkennen, aber er vermochte es nicht. War es ein Hund, eine Katze, ein Kalb oder ein Kind? Am Wegrand erschien ein Huhn und ging auf den Klumpen zu. Das Huhn fing an, den Klumpen anzupicken. Da bewegte er sich plötzlich und erhob sich sogar. Jetzt erst war zu sehen, daß es ein Hund war. Er streckte sich und lief weg. Dann erschienen plötzlich ein paar schreiende Negerkinder, die sich mit Essenschalen in der Hand in einer Reihe aufstellten. Ach so, wieder ein Film über den Hunger. Einen solchen Film wollte Abschaffel heute abend nicht sehen. Leise verließ er den Aufenthaltsraum.
Dr. Haak, der behandelnde Arzt, war mit Abschaffels Entwicklung zufrieden. In einer Untersuchung am folgenden Morgen beglückwünschte er ihn zu seiner erfolgreichen Kur. Abschaffel war erstaunt darüber, mit welcher Sicherheit der Arzt davon ausging, daß der Aufenthalt gelang oder gar schon gelungen war. Zwar war es richtig, daß sich Abschaffel tatsächlich von Woche zu Woche besser fühlte; die Massagen, die Gymnastik, das Terraintraining und das medikamentöse Begleitprogramm hatten ihm ein neues, sichereres Körpergefühl verschafft. Seine schweren Rückenschmerzen waren nicht wieder aufgetreten. Geringere Rückenschmerzen, Verspannungen, Steifigkeitsgefühle oder neuralgische Schmerzen im Hinterkopf nahm er nicht besonders ernst; sie rührten von gewöhnlichen degenerativen Gelenkerkrankungen her. Aber war die Besserung denn verläßlich genug? Seine grundsätzliche Körperangst hatte ihn nicht verlassen. Diese Angst war vielleicht nichts anderes als die Erinnerung an die erste große Niederlage des Körpers durch einen Schmerz. Aber vielleicht war sie auch mehr als nur eine Erinnerung. Die Angst beanspruchte in Abschaffels Gefühl das Recht, mit ihrem Inhalt jederzeit wieder als neue Gegenwart auftreten zu dürfen. Die Angst war also nichts anderes als die innere Gewißheit, nie wieder ganz gesund zu werden. Wußte Dr. Haak das nicht? Oder meinte er, daß jeder, der krank war, ein vergrößertes Recht auf Beruhigung hatte? Abschaffel überlegte, ob er Dr. Haak bitten sollte, wenigstens auf den Beruhigungstonfall in seiner Stimme zu verzichten. Aber er sagte nichts. Vielleicht gab es auch sehr viele Patienten, die solche Sätze hören wollten, weil sie Beruhigung schon mit der Gesundheit selbst verwechselten.
Dr. Haak stellte sich vor ihm auf und bat ihn, einige Bewegungen auszuführen. Versuchen Sie bitte, die Hände auf den Rücken zu legen, und zwar so, daß die linke Hand von oben kommt und die rechte von unten. Abschaffel tat, was ihm gesagt worden war, und Dr. Haak sah ihm dabei zu. Keine Bewegung erzwingen, wenn sie schmerzhaft ist! ermahnte er, und Abschaffel versicherte, daß er keine Schmerzen empfand. Gut, gut, machte Dr. Haak. Zum Schluß überprüfte er die Bewegungsfreiheit der Lendenwirbelsäule und die Funktionsweise des Beckengürtels. Er bat Abschaffel, eine mittlere Seit-Grätsch-Stellung einzunehmen und durch Verlagerung des Körpergewichts das Becken so weit nach rechts und links zu kippen, wie es ihm möglich war. In Ordnung, sagte Dr. Haak. Er machte einige Notizen in Abschaffels Krankenblatt, erhob sich dann hinter seinem weißen Schleiflack-Schreibtisch (den Abschaffel längst verhöhnte) und kündigte freundlich an, daß in den letzten zwölf Tagen eine tägliche Schwimmstunde im klinikeigenen Hallenbad vorgesehen sei. Die Teilnahme am Schwimmen wollte Abschaffel sofort verweigern. Er wollte anderen Personen weder seinen eigenen Körper zeigen noch wollte er die Körper anderer Patienten sehen. Aber Dr. Haak hatte seine Ankündigung so sicher und freundlich vorgebracht, daß Abschaffel den Mut zu einer direkten Verweigerung nicht fand. Dann lieber noch Waldläufe als Schwimmen, dachte er nervös. Dr. Haak schüttelte ihm die Hand und geleitete ihn zur Tür.
Beim Mittagessen versuchte er, der Wuppertaler Sekretärin und der magersüchtigen Musiklehrerin aus dem Weg zu gehen. Er wollte keinesfalls auf seinen Finnisch-Sprachkurs angesprochen werden. Er setzte sich an einen Tisch, an dem nur noch ein Platz frei war. Die Patienten an diesem Tisch waren zum größten Teil erst nach ihm nach Sattlach gekommen. Durch ein übertrieben weiches, in sich gekehrtes Verhalten wollte er zum Ausdruck bringen, daß er nicht angesprochen werden
Weitere Kostenlose Bücher