Abschaffel
jemand zu ihm reinginge und sich über seine Sorgen ausspricht. Einer hat ihm sogar mal eine Flasche Cognac geschenkt, damit er sich nicht so langweilt. Aber der Betriebspsychologe hat sich klug verhalten. Er hat die Cognacflasche aufgemacht und hat Kollegen zu sich eingeladen. Und dann kamen sie langsam zum Thema, und die Kollegen haben gemerkt, daß der Mann ziemlich genau wußte, was mit ihnen los war. Die Stadtwerke hat er einen Betrieb genannt, in dem typisch spurlose Arbeit getan wird, und das hat allen sehr gut gefallen. Spurlose Arbeit. Das ist ein geflügeltes Wort geworden im Amt, sagte sie. Es wird jeden Tag verwendet. Ich suche gerade wieder die Spur meiner Arbeit, sagen sie. Oder: Der Abteilungsleiter hat sich mal Spurendienstleiter genannt. Und wenn einer keine Lust mehr hat, sagt er einfach, ich habe endgültig meine Spur verloren. Und am Feierabend sagen sie natürlich, daß sie nun alle spurlos verschwinden. Dagmar lachte. Das Komische ist, sagte sie, daß die Formulierung spurlose Arbeit zu einem Witz geworden ist, aber trotzdem die Wahrheit ausdrückt. Vorerst lachen sie noch alle. Ich bin mal gespannt, wenn ich zurückkomme, wie die Entwicklung dann aussieht. Der Betriebspsychologe teilt die Alkoholiker in Einzeltrinker und in Gruppentrinker ein. Die Einzeltrinker fangen nachmittags im Büro an, verstecken aber die Flaschen, und machen abends vor dem Fernseher weiter. Die Gruppentrinker sind moralischer, die sagen: Bier ist Bier und Dienst ist Dienst. Die fangen erst abends an in ihren Vereinen und an ihren Stammtischen, aber sie kommen zum gleichen Ergebnis. Spätabends rollen sich die Einzeltrinker und Gruppentrinker in ihre Betten und haben’s mal wieder geschafft. An die Einzeltrinker ist leichter heranzukommen, sagt der Betriebspsychologe, sagte Dagmar, weil die noch fühlen, daß der Alkohol nur etwas ist, mit dem sie etwas zudecken können. Die Gruppentrinker halten sich aber für fröhlich und lustig und streiten sogar ab, daß sie Dauertrinker sind, sagte Dagmar.
Sie waren an der Klinik angekommen. Dagmar verabschiedete sich, weil sie ihre neuen Schuhe anziehen wollte. Abschaffel wartete in der Nähe des Parkplatzes. Eine Frau mit einem maskierten Kind an der Seite kam einen Waldweg entlang. Ein Besucher verließ die Klinik und stieg in ein Auto. Bevor er den Motor anspringen ließ, streckte er sein Gesicht hoch an den Innenspiegel und bleckte die Zähne. Er zog die Lippen weit zurück, so daß beide Zahnreihen entblößt waren. Abschaffel blickte über die nassen Felder und Wiesen. Überall lagen klobige und graue Schneeklumpen herum. Der Himmel war grau, vielleicht schneite es bald wieder. Weiter hinten erhob sich der Wald in seiner ganzen unangenehmen Nässe und Dunkelheit. Amseln versuchten, auf den schneefreien Flecken der Felder Nahrung zu finden. Dagmar brauchte lange, und Abschaffel dachte darüber nach, warum sie in der Klinik war. Fragen wollte er sie nicht. Er wollte warten, bis sie es selbst sagte, und wenn sie es nicht sagte, würde er nicht danach fragen. Bis jetzt schien sie keine Neigung zu haben, über Krankheiten zu sprechen. Manchmal erzählte sie von anderen Patienten, aber nichts über sich selbst. Vielleicht hat sie einen Waschzwang oder eine Phobie, eine Riesenangst vor irgend etwas, überlegte er. Es war ihm schon aufgefallen, wie oft sie sich die Hände wusch. Auch wenn sie zusammen schliefen, wusch sie sich vorher und nachher. Am liebsten war es ihr, wenn sie mit nassen, gestreckten Fingern umhergehen konnte und sich überhaupt nicht mehr abzutrocknen brauchte. Vielleicht wusch sie deswegen so oft ihre Unterwäsche. Wahrscheinlich wusch sie sich auch jetzt wieder, und das Wechseln der Schuhe war nur ein Vorwand gewesen. Aber es konnte ebensogut sein, daß er sich irrte. Wenn sie an einem Waschzwang litt, hatte sie ihr Leiden allerdings auch nicht verheimlicht. Vielleicht wollte sie erreichen, daß er ohne Worte kapierte, was mit ihr los war. Vielleicht war aber auch alles ganz anders.
Endlich kam sie aus der Glastür. Die neuen Schuhe hatten ihren Gang ein wenig verändert, aber Dagmar lachte und sagte: Die neuen Schuhe sind schön weich. Abschaffel ging vorsichtig, weil er seine Hosenaufschläge nicht beschmutzen wollte. Plötzlich hatte er das Gefühl, Dagmar sei eine für ihn abgestellte Begleiterin. Es war der gewöhnliche, einengende Unsinn, den sein Kopf manchmal zustande brachte und den er manchmal als solchen erkannte. Was muß man tun, fragte Dagmar,
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