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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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wieder ein. Meine Wünsche machen mir die Welt immer viel zu groß, verstehst du das? sagte er zu Dagmar; ich leide an einer von mir erfundenen Weltvergrößerung, wenn es so etwas überhaupt gibt. Dagmar schwieg. Und wenn ich die Welt ordentlich vergrößert habe, falle ich auf meine eigene Selbstverkleinerung herein, sagte er. Aber du hast doch eben gesagt, antwortete sie, daß deine Wünsche dir die Welt immer größer machen, als sie ist. Ja, sagte er, aber das weiß die Welt ja nicht, das weiß nur ich, und wenn ich die Welt größer mache, dann muß ich ja kleiner werden, oder? Was ist denn zuerst da, fragte sie, die Weltvergrößerung oder die Selbstverkleinerung? Das habe ich mir noch gar nicht überlegt, sagte er, wahrscheinlich aber die Selbstverkleinerung. Sieh dir das Beispiel mit den Äpfeln an, sagte er. Ich sah die Apfelbäume, und sofort war die Weltvergrößerung perfekt: Ich glaubte, ich wollte alle Äpfel haben. Nein, sagte Dagmar, wenn du glaubst, du wolltest alle Äpfel haben, dann hast du dich selbst vergrößert und nicht die Welt. Er überlegte. Nein, sagte er, die Apfelbäume sind etwas, was außen ist, sie gehören zur Welt, nicht zu mir, und beim Anblick der Apfelbäume sind meine Wünsche in Bewegung geraten. Aber damit waren alle Apfelbäume eine innere Angelegenheit von dir geworden, rief Dagmar. Sie stritten sich. Unbegreiflicherweise war der Ton ihrer Auseinandersetzung gegnerisch und hart geworden. Abschaffel wollte sich nicht mit Dagmar zerstreiten. Ich habe das Gefühl, sagte sie, daß du derartige Manöver dazu benutzt, um alles, was außerhalb von dir selbst liegt, einfach abzuwerten. Das glaube ich nicht, sagte er. Ich bin noch nicht fertig, sagte sie; ich habe dich noch nicht von etwas anerkennend sprechen hören, was außerhalb von dir selbst liegt. Ich glaube, du meinst, daß dir die Welt nichts bieten kann, sagte Dagmar.
    Sie kehrten um und gingen den gleichen Weg zurück. Zum Zeichen, daß Abschaffel böse mit ihr war und so nicht mit sich reden lassen wollte, ging er ein wenig schneller als sie, so daß sie immer einen halben Meter hinter ihm war. Du mußt Apfelbäume und Äpfel abwerten, etwas anderes bleibt dir gar nicht übrig, sagte sie. Soll das eine Beschuldigung sein? sagte er. Das Gespräch war heftig geworden, und Dagmar und Abschaffel richteten ihre Sätze gegeneinander. Du redest Unsinn, sagte er. Ich ziehe nur andere Schlüsse als du, sagte sie; was holst du dir denn aus der Außenwelt? Du lehnst alles ab, und wenn du es nicht sofort ablehnen kannst, dann schaltest du es durch Fremdheit erst mal aus. Ich weiß nicht, sagte er heftig, wie du zu dieser Meinung kommst, ich möchte darauf nicht mehr antworten.
    Sie schwiegen. Abschaffel fühlte sich beleidigt und gekränkt. Weil sie nicht mehr redeten, gingen sie noch schneller. Bis zur Klinik fiel kein Wort mehr. Sogar im Fahrstuhl standen sie nebeneinander und redeten nichts: wie plötzlich verfeindete Bürokollegen. Erschöpft kam er in seinem Zimmer an. Er hatte wieder das Gefühl, solchen Auseinandersetzungen nicht gewachsen zu sein. Er sah in den Spiegel und gefiel sich nicht. Wie war Dagmar zu ihren Ansichten gekommen? Hatte sie vielleicht bemerkt, daß er sich im Schuhgeschäft überhaupt nicht um sie gekümmert hatte? Morgens, wenn er aus dem Bett kam, war sein Gesicht meistens angenehm und weich und freundlich, und dann hatte er oft das schöne Gefühl, sich und den anderen endlich alles erlauben zu können. Aber je länger der Tag dauerte, desto mehr schloß sich sein Gesicht, und am Abend sah es oft nur noch eng und schmerzlich aus. Und wenn er solche Gespräche zu verarbeiten hatte, dann war es, als wäre der schmerzliche Abend vorverlegt worden: diese Enge, diese Furcht, dieses Zittern. Er wollte sich ausruhen, aber es gelang ihm nicht. Denn er war dazu übergegangen, diejenigen Teile der Auseinandersetzung, die ihm noch im Kopf waren, für sich nachzusprechen. Es war ein Zwang. Was holst du dir denn aus der Außenwelt? sagte er leise und zog sein Hemd aus. Du willst alles abwerten, was außerhalb von dir selbst liegt, sagte er, nahm das Hemd wieder in die Hand und stopfte es in einen Plastikbeutel. Da fiel ihm ein, daß er vor mehr als vierzehn Tagen ein paar Hemden in die Sattlacher Reinigung gebracht und seither vergessen hatte. Das war ihm noch niemals passiert in seinem ganzen bisherigen Leben. Gewiß, er wollte diese Frau in der Reinigung nicht mehr sehen, das fiel ihm gleich ein. Trotzdem mußte

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