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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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wollte. Dies war allerdings auch unwahrscheinlich, denn eine laut sprechende, die Lippen aufwendig bewegende Frau erzählte ziemlich rücksichtslos aus ihrem Leben. Sie litt darunter, daß sie sich eine teure, große Wohnung eingerichtet hatte, aber nicht benutzte. Die Wohnung steht leer, und es ist meine Wohnung, sagte sie. Vor zehn Jahres war es so, sagte sie, da bin ich fast jeden Abend sehr spät nach Hause gekommen, eine wilde Zeit, kann ich nur sagen. Damals wohnte ich noch nicht in dieser Wohnung, die ich jetzt meine, sondern in einer anderen, viel kleineren Wohnung. Aber da fing alles an. Die frühere Wohnung war nur noch eine Schlafstelle, sagte sie. Ich bin morgens zur Arbeit und abends um zwölf oder eins todmüde in die Falle geklappt. Dann dachte ich, es liegt an der Wohnung, daß ich nicht nach Hause will, und habe mir diese große, teure Wohnung genommen und habe sie teuer eingerichtet. Kinder, so was habt ihr noch nicht gesehen! Aber in dieser Wohnung ging es genauso weiter. Ein paar Wochen lang habe ich drin geschlafen, aber dann war es wieder aus. Und ich hab doch soviel Geld reingesteckt in die Teppiche und in die Möbel und alles. Aber es wurde noch schlimmer als zuvor. Ich bin dann nämlich noch nicht einmal mehr zum Schlafen in die teure Wohnung. Ich weiß nicht, was das ist. Seit einem Vierteljahr übernachte ich bei einer früheren Kollegin, jede Nacht. Ich kann überhaupt nicht mehr in meine Wohnung. Ich weiß nicht, was das ist! rief sie aus. Ich werd vielleicht noch, ich weiß es nicht, hoffentlich geht es wieder weg. Ich zahl ja meine Miete und alles, aber die Wohnung ist immer leer, ich begreife das nicht.
    Die Frau begann zu schluchzen. Sie breitete rasch eine Serviette aus und hielt sie sich mit beiden Händen über das Gesicht. Sie kam so heftig ins Schluchzen, daß ihr ganzer Körper vibrierte. Niemand am Tisch sagte ein Wort. Die Frau beruhigte sich wieder. Sie wischte sich mit der Serviette die Tränen aus den Augen und sah in ihren leeren Teller. Noch immer wagte niemand am Tisch zu sprechen. Es war, als müßte zuerst die Frau wieder ein paar normale, unverweinte Sätze sagen, ehe auch die anderen wieder zu sprechen begannen. Abschaffel interessierte sich stark für das Wohnungsleiden dieser Patientin. Er hätte sich gern mit ihr unterhalten und sich ihr Leiden in allen Einzelheiten schildern lassen, aber er fürchtete sich vor ihren Weinausbrüchen. Was war mit einem erwachsenen Menschen zu machen, der mitten in einer Mitteilung in ein Weinen ausbricht? Das Wohnungsleiden dieser Frau war ihm zwar fremd, aber trotzdem nahe. Er selbst wohnte seit Jahren in einer kleinen Wohnung, die abwechselnd nett und verkommen aussah. Und wenn sie verkommen aussah, wollte auch er am liebsten fliehen. Und dabei bedurfte es nur weniger Handgriffe und Besorgungen, dann fand er seine Wohnung wieder freundlich und warm. Trotzdem war es auch ihm ein Rätsel, wie diese Verwandlungen vor sich gingen und was er gegen sie unternehmen konnte. Und weil er sich nicht zu helfen wußte, dachte er abwechselnd in krassen Gegensätzen. Einmal wünschte er sich eine winzig kleine Wohnung, die fast schon eine Zelle war, mit einer Glühbirne an der Decke und einem Eisenbett in der Ecke. Am anderen Ende zwei Koffer, mit denen er jederzeit seine Wohnung für immer verlassen konnte. Und wenn er vor diesen Bildern Angst bekam, stellte er sich eine phantastische Vier-Zimmer-Wohnung vor: mit teuren und schönen Möbeln und einem wunderbaren Ausblick über die halbe Stadt. Aber wenn er sich diese Wohnung vorstellte, beschlich ihn eine Angst, die Angst nämlich, diese Wohnung nicht gebrauchen zu können und wieder in eine kleine graue Zelle fliehen zu wollen. Wahrscheinlich würde er niemals in einer Zelle und niemals in einer großen Vier-Zimmer-Wohnung leben, aber seine Gedanken bewegten sich häufig in diesen nicht existierenden Wohnungen. Vielleicht ergab sich noch eine andere Gelegenheit, mit dieser schluchzenden Patientin zu sprechen. Vielleicht war ihre Enttäuschung deswegen so groß, überlegte er, weil sie eine ihrer Phantasien, eine schöne, teure große Wohnung, in Wirklichkeit umgesetzt hat, und das hätte sie nicht tun dürfen, niemals. Abschaffel konnte das Leiden dieser Frau so gut begreifen, daß er sich am liebsten ihre Tränen auf das Hemd geschmiert hätte. Sollte er aufstehen und die Frau wenigstens umarmen, weil er vielleicht der einzige Mensch auf der Welt war, der ihr Leiden kannte, ohne es

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