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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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ausprobieren zu müssen, weil es für ihn im Rudel seiner Leiden nur im dritten Verfolgerdrittel eine Rolle spielte? Nichts von alldem geschah. Jeder blieb auf seinem Platz. Nach ein paar Minuten erhob sich die Frau mit dem Wohnungsleiden und verließ den Speisesaal.
    Abschaffels erste Schwimmstunde am Nachmittag wäre beinahe gescheitert. Er fand sich in Badehose und Badekappe unerträglich. Die Badehose hatte er sich von zu Hause mitgebracht, aber die Badekappe hatte er sich vom Bademeister ausleihen müssen. Als er sich, die Badekappe auf dem Kopf, zum erstenmal im Spiegel sah, wollte er schreiend wegrennen. Er sah aus wie ein verrückter Gefangener oder wie ein groteskes Tier. Nur weil der Rückzug aus der schon betretenen Schwimmhalle zu umständlich war, mußte er die Schwimmstunde irgendwie überstehen. Immerzu wollte er sich die Badekappe, die für seinen Kopf zu klein war, wieder herunterreißen. Erst der Anblick des Schwimmbeckens verschaffte ihm überraschend angenehme Empfindungen. Die Halle war an einer Längsseite und an einer Schmalseite von Glaswänden eingefaßt. Mehr als einmal, bevor er in das Wasser stieg, lief er langsam um das Becken herum, nicht weil er sich vor dem Wasser fürchtete, sondern weil er es schön fand, aus der gläsernen Halle nach draußen sehen zu können. Er fühlte sich wie in einem Aquarium. Vor einigen Tagen hatte es wieder ein bißchen geschneit, und die niedrigen Büsche draußen vor der Schwimmhalle waren weiß zugedeckt. Es war schön, den Winter draußen zwar zu sehen, aber nicht zu spüren, und dies nur durch die Trennung einer Glasscheibe, die selbst wiederum nicht gesehen werden konnte, wenn das Glas nicht gerade spiegelte. Wieder und wieder sah er hinaus, und bald hatte er herausgefunden, warum ihm das Hinausschauen ein solches Vergnügen bereitete: Die Arbeit der Unterscheidung zwischen Innenwelt und Außenwelt war aufgehoben, wenn auch nur für Augenblicke und um den Preis einer sentimentalen Täuschung. Die verschneiten Büsche draußen waren genauso Innenwelt geworden wie die in den Himmel hineinragenden Bäume. Endlich hatte er es geschafft, immerzu in sich selbst umhergehen zu können und nie mehr nach außen gehen zu müssen. Es kam darauf an, die Täuschungen glaubhaft zu machen. Er wurde fast verrückt über diesen Gedanken. Sollte er damit begonnen haben, nicht mehr ganz so streng und unerbittlich mit sich selbst zu sein? Das war kaum zu glauben. Oder doch? Zum Glück dieser Stunde gehörte, daß er die Antworten auf alle seine Fragen nicht unbedingt wissen mußte, um weiterleben zu können. Während des Umhergehens um das Becken hatte er zuerst nicht bemerkt, daß ihm auch das Gehen mit nackten Fußsohlen auf den glatten weißen Platten Spaß machte. Das plitschende Auftreten der Sohlen auf den halbwarmen, feuchten Platten rief angenehme körperliche Regungen hervor.
    Es waren nur wenige Patienten im Wasser. Er kannte sie nicht. Sie hielten ihre Köpfe ruhig über dem Wasser und schwammen auf und ab. Abschaffel konnte leicht und sicher schwimmen. In seiner unerwarteten Freude fiel ihm zum Glück nicht ein, daß er schon vom ersten Tag an in diesem Becken hätte schwimmen können. Während des Schwimmens beobachtete er den Bademeister, einen jüngeren, braungebrannten Mann, der kurze weiße Hosen und ein enges, kurzärmeliges Hemd trug. Die meiste Zeit stand er am Beckenrand und beobachtete die Patienten. Wenn er ging, streifte er mit den Fingerspitzen seine Oberschenkel. Immer wieder geriet Luft in Abschaffels Badekappe. Er zog sie sich vom Kopf und setzte sie sich neu auf. Vier oder fünf Patienten schwammen stur eine Bahn nach der anderen. Ein älterer Patient versuchte, auf dem etwa zwei Meter tiefen Grund des Beckens entlangzutauchen. Aber wenn er den Boden erreicht hatte, ging ihm schon die Luft aus, und mit platzenden Atemstößen erschien sein Kopf wieder über der Wasseroberfläche. Wahrscheinlich konnte er vor fünfzig Jahren wirklich einmal tauchen, dachte Abschaffel. Nun versuchte er es wieder und fand nur die Ergebnisse seines Alters. Am peinlichsten war sein eifriges Umherblicken nach jedem Versuch. Sollte Abschaffel zu ihm hinüberschwimmen und ihm sagen, daß es keinen Sinn hatte, eine frühere Ausgabe seiner selbst nachzuspielen? Natürlich schwamm er nicht zu ihm hinüber, sondern blieb bei sich. Er bewegte sich in einem nachlässigen Zickzackkurs und achtete darauf, den strengen Bahnenschwimmern nicht in die Quere zu kommen. Er blieb

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