Abschaffel
nicht aufrechterhalten konnte oder er selber. Oder war es vielleicht nur ihr Mantel? Es fiel ihm leicht, die Entfernung zwischen sich und ihr rasend schnell zu vergrößern. Dennoch verschaffte ihm die Distanzierung ein schlechtes Gewissen. Zum Glück schien sich die Frau an ihn überhaupt nicht zu erinnern. Um sich wirklich von ihr distanzieren zu können, müßte er die Frau ausdrücklich verhöhnen und entwerten, aber dazu hatte er keine Lust. So lief er nur weg, verärgert und überdrüssig. Wie war es möglich, daß aus dem Verlangen von gestern jederzeit ein heutiger Spuk werden konnte? Er betrachtete eine Gruppe von tanzenden Männern, die als Hexen verkleidet waren. Sie trugen hohe Masken auf den Köpfen und waren wie alte Großmütter anzusehen. Zwischen den Beinen hielten sie Reisigbesen, auf denen sie zu reiten schienen. Unter den Masken verbargen sich offenbar junge starke Männer, die mit Kraft und Fixigkeit in den Straßen umhersprangen und da und dort überraschend Leute aus dem Publikum anfielen und sie so zwickten und kitzelten, daß sie sich nicht mehr wehren konnten. Die Frauen schrien auf, wenn sich solche Gestalten ihnen näherten, und flüchteten in Läden oder Hauseingänge. Es gelang den als Hexen verkleideten Männern aber, flink hinter die Reihen der Zuschauer zu springen und die Frauen von hinten anzufallen. Und wenn die Gelegenheit gut, das Gedränge dicht und deckend war, griffen sie die Frauen von oben bis unten ab und tauchten so plötzlich, wie sie gekommen waren, im Gewühl wieder unter. Es sah aus wie gut versteckte Gewalt, die unerkannt bleiben mußte, weil sie als Spaß eingeführt war. Nur in den Gesichtern der überraschten Frauen zeigten sich Spuren der Übergriffe; bleich und konsterniert stand die eine oder andere am Rand des Geschehens und ordnete sich die Kleider und die Haare.
Abschaffel hatte genug. Er wollte so rasch wie möglich den engeren Dorfkern verlassen, um in das Tal zu gelangen, in dem sich das abgebrannte Haus befand. Da entdeckte er Dagmar, umarmt von einem anderen Patienten. Er hatte sie tagelang nicht gesehen und nicht gesprochen. Nach dem Streit, der beim Anblick der Apfelbäume ausgebrochen war, hatten sie keine Möglichkeit mehr gehabt, einander noch einmal zu begegnen. Sie waren von Anfang an ein realitätsloses Liebespaar gewesen, das sich beim ersten Widerstand trennte. Es machte ihm nichts aus, Dagmar von einem anderen Patienten umarmt zu sehen. Wahrscheinlich kam dieser Patient besser mit den Fasnachtsumtrieben zurecht als Abschaffel. Erstaunt sah er, daß Dagmar laut lachend den Mund öffnete. Sie lachte über den Anblick einer großen Trommel, die auf dem Fahrersitz eines geparkten Autos abgelegt war. Er fragte sich, ob Dagmar, hätte sie mit ihm die Trommel im Auto gesehen, ihr Lachen unterdrückt hätte, um ihn nicht in seiner ernsten Selbstversunkenheit zu stören. War seine stille Sprödigkeit so umgreifend, daß eine andere Person, die mit ihm zu tun hatte, ebenfalls still und spröde sein mußte? Mit diesen einfühlenden Gedanken, die schon die Form der Erinnerung hatten, verließ er Dagmar. Außerdem verließ er die Fasnacht und das ganze Dorf. Schon nach einem halben Kilometer Fußweg war das Sattlacher Gedröhn weit hinter ihm und kaum noch zu hören. Er schritt in ein weit auseinandergezogenes Tal ein; nach seiner Kenntnis mußte es das Tal des abgebrannten Hauses sein. Auf den Wiesen und Feldern lag harter, gefrorener Schnee. Rechts von der schmalen Straße floß ein kleiner Bach, der an den Rändern vereist war. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Aus den Schornsteinen der weit zurück gebauten Bauernhäuser stieg grauer Rauch. Bis hoch unter die Fenstersimse war das gespaltene und trocken gehaltene Brennholz gestapelt. Zweimal hörte er das schwere, rauhe Bellen von eingesperrten Hunden. Wieder hatte er das Gefühl, über das Leben der Menschen niemals etwas zu erfahren, auch wenn er hundert Jahre lang in der Klinik wäre. Brannten sie immer gleich ihre Häuser nieder, wenn sie Konflikte hatten?
In diesem Tal mußte auch eine andere Katastrophe passiert sein, von der ein Langzeitpatient, der schon ein halbes Jahr in der Klinik war, einmal erzählt hatte. Allerdings war sie schon uralt: in den zwanziger Jahren lebte in einem der Bauernhäuser eine alleinstehende ältere Frau. In der ganzen Umgebung war ihre Furcht vor Dieben und Einbrechern bekannt gewesen. Über ihrem Bett hatte sie eine Trompete hängen, auf der sie blasen
Weitere Kostenlose Bücher