Abschaffel
mehr als zwei Stunden in der Schwimmhalle.
Das ganze nächste Wochenende wollte Abschaffel die Klinik nicht verlassen. Es war das letzte Fasnachtswochenende. Seit Tagen redeten die Patienten davon, daß es in Sattlach ein großes Treffen von Musik- und Maskengruppen aus den umliegenden Dörfern geben sollte. Dann lieber Spaziergänge im Wald, dachte Abschaffel wieder, und so hatte er es auch halten wollen. Jedenfalls wollte er drei Tage lang das Dorf nicht betreten. Dann aber, am Samstag, fand er in der Heimatzeitung des Sattlacher Kreises das Foto eines verkohlten Bauernhauses, das zwei Tage zuvor in einem Seitental niedergebrannt war. Eifrig las er den Text unter dem Bild und erfuhr, daß in dem Haus eine jüngere Frau mit ihrem Mann, ihrem Kind und ihrem Vater gelebt hatte. Der Vater hatte das ganze Obergeschoß für sich gehabt, und die Familie der Tochter hatte im Erdgeschoß gewohnt. Der Ehemann der Tochter, hieß es, hatte die Absicht gehabt, das Haus im Erdgeschoß zu erweitern, um ein Zimmer nur, weil der Platz für die Familie nicht mehr ausgereicht hatte. Mit diesen Plänen des Schwiegersohns war der Vater nicht einverstanden gewesen. Er hatte sich monatelang den Absichten des Schwiegersohns widersetzt und immer wieder angekündigt, daß das Haus eher abbrennen als umgebaut oder erweitert werde. Offenbar hatte ihm niemand geglaubt, und nun war es geschehen. Der Vater hatte das Feuer in der Nacht selbst gelegt. Die ganze Familie mit Ausnahme des Kindes, das sich auf ungeklärte Weise hatte retten können, war in den Flammen umgekommen. Abschaffel las den Text mehrmals. Das Bild in der Zeitung war schwarz eingerahmt, der Text fettgedruckt, als wollte die Zeitung ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck bringen, daß es etwas so Ernsthaftes und Wirkliches zu berichten gab. Trotz der Fasnachtsumtriebe beschloß Abschaffel, sich das abgebrannte Bauernhaus anzusehen. Denn das Haus lag auf der anderen Seite von Sattlach, so daß Abschaffel von der Klinik aus durch das Dorf hindurchgehen mußte. Er riß sich das Bild mit dem verkohlten Haus aus der Zeitung heraus und machte sich nach dem Mittagessen auf den Weg. Er hatte geglaubt, um diese Zeit noch nicht mit den Umzügen in Berührung zu kommen, aber er hatte sich geirrt. Sattlach war auf den Beinen. Überall wimmelte es von Menschen, die grundlos lachten und tranken. Zum Teil warteten sie wohl auf den Beginn eines Umzugs oder auf besondere Darbietungen, zum anderen Teil schienen sie selbst zu bestimmten Gruppen zu gehören. Die Maskenträger hielten Schilder, auf denen ihre Namen zu lesen waren: Stängelihocker, Rämässer, Klepperlisbuebe oder Pflumedrucker. Viele von ihnen hatten besondere Lärminstrumente in der Hand, meistens knatternde Holzgeräte, die sie fast unablässig drehten. Abschaffel schweifte mit dem Blick über die Hüte und Mützen der vielen Menschen und hoffte, möglichst schnell an ihnen vorbeizukommen. Schmetternde Trompetenstöße am anderen Ende von Sattlach kündigten das Eintreffen einer Abordnung an. Rasch drängten die Menschen an die Straßenseiten und reckten ihre Körper in die Höhe, damit sie die Musiker gut sehen konnten. Es waren gutfrisierte, läppische Männer in Phantasieuniformen, die in einer quadratischen Anordnung einherschritten und ihre in der Sonne blitzenden Fanfaren wie lange Flaschen an ihre Münder hielten. Hinter den Fanfarenbläsern stiefelte eine Gruppe von Männern einher, die als Landsknechte verkleidet waren. Sie trugen weite Schlapphüte, enge Wämse und kurze, gestreifte Hosen, und jeder hielt eine flache Trommel in Höhe des linken Oberschenkels von sich weg. An einem Weinstand lehnte die Frau aus der chemischen Reinigung, die Abschaffel zu Beginn seiner Kur an einem ratlosen Spätnachmittag so unvernünftig begehrt hatte. Sie hatte ein kleines Kind bei sich, dem sie gerade die Handschuhe anzog. Als er ihre Erscheinung genauer betrachtete, schämte er sich seines früheren Verlangens. Sie trug einen schmutziggrünen Mantel, der so formlos war, daß er nur wie eine grobe Verhüllung ihres Körpers wirkte. Der Kragen hatte einen billigen Pelzbesatz, und um den Hals trug sie einen Schal, den sie mit der rechten Hand unablässig ordnete. Ihr Kopf war mit einem runden weinroten Filzhut bedeckt. Abschaffel tat eine Weile so, als begehrte er diese Frau noch immer. Als müßte sich sein echtes Verlangen erst jetzt in ein nur noch gespieltes Verlangen umwandeln müssen. Er fragte sich, ob die Frau sein Verlangen
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