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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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wollte, wenn sie je überfallen werden sollte in ihrem Haus. Dieses Signal war mit den Bewohnern der Nachbarhäuser vereinbart gewesen. Eines Tages kamen zwei wandernde Handwerksburschen, die in Sattlach neue Stellungen antreten sollten, das Tal herunter. Und weil sie Hunger verspürten, klopften sie an der Tür der alleinstehenden Frau an. Es wurde ihnen geöffnet, und sie fragten, ob sie etwas zu essen haben könnten. Aber die Frau gab ihnen nichts und schloß nur wortlos die Tür. Verärgert zogen die beiden Handwerker weiter, bis sie in Sattlach eintrafen. Sie mieteten sich im Gasthof Sonne – den es noch heute in Sattlach gab: sogar an der alten Stelle – ein und waren sich rasch einig darin, daß sie der Alten, die ihnen ein Stück Brot verweigert hatte, in der Nacht einen Streich spielen wollten. Sie hatten lediglich die Absicht, sie gehörig zu erschrecken. Wirklich rückten sie in der Nacht aus und wanderten das Tal wieder hoch. Natürlich wußten sie nichts von der spezifischen Angst der Frau, noch weniger etwas von ihrer Trompete. Und wäre die Trompete nicht gewesen, dann wäre die Frau wirklich nur mit dem Schrecken davongekommen. Die beiden Handwerker, am Haus angekommen, lehnten eine Leiter an das Haus und stiegen aufs Geratewohl in ein offenes Fenster. Die Frau, aus notorischem Mißtrauen schlecht schlafend, wachte sofort auf. Und noch ehe sie, die Trompete in der Hand, an das Fenster geeilt war, um zum Zeichen ihrer Bedrohung einige Töne von sich zu geben, hatten die Handwerker ihre Situation erkannt. Sie mußten verhindern, durch die Trompete verraten zu werden, und tatsächlich gelang es ihnen, die Frau vorerst am Blasen zu hindern. Der Kampf um die Trompete wurde ein Kampf auf Leben und Tod. Zum Glück hat die Frau nicht mehr erfahren müssen, daß sie lediglich die Trompete hätte loslassen müssen, um mit dem Leben davonzukommen. Nach kurzem, heftigem Kampf wurde sie erwürgt. Am folgenden Tag, als sie nicht wie gewöhnlich aus dem Haus kam, wurden die Nachbarn argwöhnisch und sahen in ihr Haus. Sie lag tot im Bett, den Hals entstellt von Würgemalen. Das Fenster war offen, und in der Hand festgeklammert hielt sie ihre Trompete. Die beiden Handwerksburschen sind noch am gleichen Tag im Gasthof Sonne festgenommen worden. Eine Magd auf einem Hof, wo die beiden zuvor um Brot gefragt hatten, erinnerte sich ihrer; sie waren die einzigen Personen gewesen, die am Tag des Geschehens durch das Tal gekommen waren. Sie gaben das Verbrechen sofort zu; sie schilderten ausführlich die Mißverständnisse und die Vorgeschichte, aber wenige Wochen später wurden sie hingerichtet. Das Haus, in dem der Mord geschehen war, stand lange leer. Niemand wollte in ein solches Haus einziehen oder ein solches Haus gar kaufen. Bis sich eines Tages eine arme, kinderreiche Familie meldete, die weder Ansprüche stellte noch gar, was die Geschichte des Hauses anging, besondere Rücksichten nahm. Mit dem Einzug dieser Familie begann der zweite Teil des Unglücks, der mit dem ersten nichts zu tun hatte. Beide Unglücksfälle, der alte und der eben erst beginnende neue, hatten nur ihren Ort gemeinsam, dieses unselige Haus. Der Ernährer der neu in das Haus eingezogenen Familie, ein Schreiner, war ein dem Alkohol verfallener Haustyrann. Weil so viel Geld für den Alkohol gebraucht wurde, litt die Familie immer wieder Not. Jahr um Jahr gebar die Frau Kind um Kind. Am Ende waren es neun oder zehn, die von der ausgelaugten Frau versorgt werden mußten. Es kam der Krieg, und das Leben wurde noch schwerer. Obwohl die Nächte im Wald und in den Tälern schon dunkel genug waren, ordneten die Nazis während der Kriegsjahre besondere Verdunkelungen an. Nicht einmal eine Taschenlampe durfte aufleuchten, und wer während einer Verdunkelung dem Nachbarn etwas stahl, mußte mit der Todesstrafe rechnen. Eines Nachts konnte der wieder einmal angetrunkene Schreiner nicht widerstehen. In der angeordneten Verdunkelung genehmigte er sich selbst eine kleine Untat: Er stahl ein Fahrrad und nahm es mit nach Hause. Er verstaute das Rad im Keller und benutzte es nicht. Aber alle Sorgfalt des Versteckens nutzte ihm nichts: Seine eigene Frau verriet ihn an die Nazis. Sie holten ihn ab, sperrten ihn ein und machten ihm den Prozeß. Aus dem Gefängnis schrieb er hilflose Briefe an seine Frau, die ihn nicht mehr retteten. Nach einigen Wochen wurde auch er hingerichtet.
    Abschaffels Blick schweifte über die weißen, leicht abschüssigen Wiesen. Er

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