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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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der Schlafzimmerrolladen heruntergelassen. Schon von weitem konnte er sehen: Aha, sie ist mal wieder im Bett, nicht anwesend, unansprechbar. Als er dann in der Wohnung war, schaltete er im Flur die Lampe an und öffnete leise die Tür zum Schlafzimmer. Jedesmal hatte er gehofft, durch den Einfall des Lichts in das Schlafzimmer werde die Mutter aufwachen und freundlich ins Leben zurückkehren. Manchmal kehrte sie tatsächlich zurück, aber sehr selten. Sie bemerkte zwar das Licht, aber das führte in der Regel zu nichts. Sie drehte sich nur um, dann war wieder Stille. Und Abschaffel, das Schulkind, schloß die Schlafzimmertür und rätselte, warum die Mutter so niedergeschlagen war. Etwas Ungeheuerliches schien geschehen zu sein, aber was? Kam sie mit den Kindern nicht zurecht? Oder mit Vater? Hing es mit dem Krieg zusammen? Mit dem Geld? Oder mit allem? Schon am Vormittag in der Schule begann das Kind Abschaffel darüber zu rätseln. Und die Katastrophe begann, als das Kind dazu überging, die Verfassung der Mutter zu der seinen zu machen. Er saß am Tisch in der Küche, die Arme aufgestützt auf die Wachstuchtischdecke und versuchte die Rätsel der Familie zu lösen. Aber er konnte die Bedrückung der Mutter nicht aus der Welt schaffen; die Aufgabe war zu schwer. Der einzige Ausweg bestand darin, die Bedrückung zu übernehmen. Vielleicht hatten sich die Eltern gegenseitig hoffnungslos gemacht und nicht bemerkt, daß ihre Kinder keine andere Wahl hatten, als dabei mitzumachen. Aber wer hatte damit angefangen, der Vater oder die Mutter? Oder waren sie beide von Jugend an eng und stumpf gewesen und hatten nur am Anfang ihrer Ehe ein wenig Freude aneinander gehabt, um dann in eine Lebensreglosigkeit zu fallen, aus der sie nicht mehr hervorkamen?
    Wenn es möglich gewesen wäre, die Eltern in ein Polizeirevier zu schicken, damit sie endlich alle Fragen klipp und klar beantworteten, dann hätte Abschaffel in diesen Augenblicken dem Polizeiverhör zugestimmt. Aber schon eine halbe Minute später hatte er wieder Mitleid mit ihnen. Die armen Eltern beim Polizeiverhör! Schließlich waren sie schuldlos daran, daß sein Leben so stark mit dem ihren verknüpft war. Oder? Abschaffel ging umher, und während er diese Probleme rastlos im Kopf hin- und herschob, hatte er mit den Fingernägeln unablässig an den Innenseiten seiner Manteltaschen auf- und abgeschabt. Es war ihm eine ganze Menge krümeliger Ablagerungen und Wollfusselzeug unter die Fingernägel gekommen, und er beschloß, mit diesen schmutzigen Fingernägeln später zu Dr. Buddenberg zu gehen. Er wollte ihm zeigen, daß er sich darüber ärgerte, noch einmal bei ihm erscheinen zu müssen. Am Spätnachmittag, als er wie üblich bei Dr. Buddenberg im Patientensessel saß, legte er auffällig die Hände mit seinen schmutzigen Fingernägeln auf die Lehnen. Aber Dr. Buddenberg schien sich nicht daran zu stören. Es war noch nicht einmal sicher, ob er den Schmutzangriff überhaupt bemerkt hatte. Abschaffel war gekränkt. Er ärgerte sich über fast jede Null, die ihm über den Weg lief, aber wenn er einmal jemand ärgern wollte, klappte es nicht. Abschaffel tat, als wollte er sich hier die Fingernägel saubermachen, aber er hielt diese Steigerung selbst nicht lange aus. Dr. Buddenberg schwieg und wartete. Na gut, der Analytiker war eben aus Eisen wie fast alle anderen Menschen auch. Aber weil er so stur und reglos war, wollte ihm Abschaffel zum Schluß wenigstens etwas wirklich Unangenehmes berichten (er fühlte sich wie ein Kind, das sich traut, endlich einmal die Zunge herauszustrecken). Er begann von Prostituierten und Bordellen zu erzählen. Er glaubte minutenlang, Dr. Buddenberg damit ekeln oder wenigstens schockieren zu können. Aber der Analytiker zeigte keinerlei Reaktion. Er hörte zu wie immer. Und Abschaffel gelang es nach etwa zehn Minuten, von seinem angeberisch-verruchten Tonfall abzukommen und ebenfalls zu sprechen wie immer. Eigentlich war er darüber dankbar, aber er konnte es nicht zeigen (nachdem die Zunge herausgestreckt und wieder wohlverborgen im Mund war, ließ sich auch wieder damit reden). Ich will es gar nicht mehr, aber ich werde es sicher wieder tun, sagte er. Es ist immer eine große Verwirrung im Gange, wenn ich in einem Bordell herumgehe, weil ich zu sehr spüre, daß ich gar nicht dort sein will. Und vögeln will ich erst recht nicht, jedenfalls nicht dort. Aber ich kann auch nicht wegbleiben. Ich will eigentlich nur in den Hallen umhergehen

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