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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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und die Frauen bloß ansehen. Ich will sehen, in welcher Verfassung die Frauen gerade sind, welche Stimmung sie haben, wenn ich an sie hintrete oder an ihnen vorübergehe, ob sie abweisend sind oder zugänglich, freundlich oder bloß stumm. Meistens sind die Nutten ja unheimlich schlechter Laune, sagte er. Sie hocken auf ihren Barhockern wie längst gestorbene Papageien; sie bewegen nur noch die Augendeckel, wenn ein Mann in ihre Nähe kommt. Die meisten Nutten sind genauso abweisend und schläfrig wie meine Mutter. Und an meine Mutter denke ich auch oft, wenn ich in Bordellen umhergehe und nicht weiß, was ich suche. Wenn die Mutter zu Hause freundlich und guter Stimmung war, fühlte ich mich auch gut. Das war in meiner ganzen Schulzeit die wichtigste Frage für mich: Wie würde mich meine Mutter heute empfangen? Es kommt mir jetzt so vor, sagte Abschaffel, daß ich, wenn ich in Bordelle gehe, eigentlich nur die Gewißheit haben möchte, von meiner Mutter freundlich empfangen zu werden, endlich einmal. Fand ich aber meine Mutter im Bett liegend vor, was ja meistens der Fall war, dann wußte ich nicht, wo ich mich lassen sollte. Später kam mein Bruder dazu, aber der schmiß nur seine Schulmappe hin und ging wieder weg. Ich war allein in der Wohnung mit dieser nicht vorhandenen, irgendwie gekränkten Mutter, es war fürchterlich. Ich traute mich nicht, die Mutter zu verachten, das wäre ungeheuerlich gewesen. Wie konnte sie es zulassen, fragte ich mich immer wieder, daß ich ganze Nachmittage ihretwegen litt? Daß die Welt und die Schule und die Nachmittage und einfach alles an mir vorbeizog, nur weil ich eine merkwürdige Wache in der leeren und stillen Wohnung abhalten mußte? Aus dieser inneren Spannung bin ich bis heute nicht herausgekommen. Einerseits übernahm ich die Bedrückung der Mutter, weil ich glaubte, dies sei das einzige, was ich für sie tun konnte. Andererseits kritisierte ich sie, nur im stillen natürlich, weil mein eigenes Lebensrecht mit dieser schweren Einschränkung nicht fertigwurde. Ich war also immer auf ihrer Seite und zugleich gegen sie. Sie war so hilflos, daß man sie retten wollte, aber ihre Hilflosigkeit war so zerstörerisch, daß man sie zugleich hassen mußte. Wenn ich sie hassen gekonnt hätte. Und alle diese Gefühle habe ich auch, wenn ich Nutten sehe. Ich will ihnen helfen, und ich verachte sie. Wie die Mutter. In den ganz wenigen freundlichen Nutten erkenne ich meine so selten gutgelaunte Mutter. Ich will gar nicht mit denen ins Bett, ich will nur mit denen reden und erleben, wie ihre Freundlichkeit auf mich übergeht. Aber das kommt so gut wie nie vor. In der Regel sieht man mißmutige, abgewandte Nutten, und in ihnen erkenne ich meine reglose, lebensunfreundliche und verdämmernde Mutter.
    Abschaffel schwieg. Er war erschöpft, und er war voller Scham. Am liebsten wollte er gehen. Es entstand eine lange, stille Pause. Abschaffel sah aus dem Fenster hinaus. Der Schnee draußen war alt, und an einigen Stellen schaute nasses altes Gras aus dem Boden hervor. Es war nicht zu verheimlichen: Es kamen ihm die Tränen, und er streckte sein Gesicht noch deutlicher zum Fenster hin, damit Dr. Buddenberg es nicht sehen konnte. Schließlich sagte Dr. Buddenberg: Sie gehen also ins Bordell, weil sie nur dort ihre Mutter hassen können.
    Ich halte diese Möglichkeit fast nicht aus, sagte Abschaffel; sie bringt mich um, wenn sie das erfährt. Seit ich von den Eltern weg bin, fuhr er fort, und das ist schon mehr als zehn Jahre her, empfinde ich ihnen gegenüber Schuld und mir selbst gegenüber Schmerz. Und ich kann mir nicht erklären, wo dieses Schuld- und Schmerzgemisch herkommt und wie es entsteht. Ich habe die Eltern verlassen, weil es bei ihnen nicht mehr auszuhalten war. Aber seither muß ich mit dieser Schuld und diesen Schmerzen herumlaufen, die ich mir nicht erklären kann. Aber ich will eine Erklärung haben, weil ich ohne Erklärung vielleicht eines Tages verrückt werde, verstehen Sie das, Herr Dr. Buddenberg. Ich erkläre es mir so: Die Grundlage eines funktionierenden Familienlebens muß die Fähigkeit aller in der Familie lebenden Personen sein, alle Kränkungen, die das Familienleben hervorbringt, und das heißt, das Familienleben selbst, immer wieder vergessen zu können. Wer am schnellsten vergißt, daß er gekränkt, verletzt oder beleidigt worden ist, kann das Familienleben am sichersten fortsetzen. Alles muß jeden Tag von allen vergessen werden, dann blüht die Familie.

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