Abschaffel
Reaktion des Patienten nach, die er eben gehört hatte: Scheiße Scheiße Scheiße. Aber es half ihm nicht viel. Der Schmerz war stark; es dauerte mehr als eine halbe Stunde, bis das Ziehen und Spannen in seinem Körper nachließ.
Die letzten Tage in Sattlach verbrachte Abschaffel in Ruhe und Nachdenklichkeit. Er wollte niemanden sehen und niemanden sprechen. Einmal begegnete ihm Dagmar, aber sie hoben beide nur kurz das Gesicht und gingen aneinander vorüber. Morgens saß er am Fenster seines Zimmers und sah auf die Dächer der Häuser im Tal. Die Landschaft paßte gut zu jedem Leiden. Die Berge und Täler standen still und ließen sich endlos betrachten. Einmal beobachtete er im Tal den kleinen gelben Volkswagen der Post. Ein junger Briefträger fuhr die kurzen Strecken von Haus zu Haus, und in fast jedem Haus gab er einen dicken, schweren Packen ab, der mit rotem Packpapier eingebunden war. Es mußten Kataloge eines Versandhauses sein, überlegte Abschaffel am Fenster. Auch seine Mutter erhielt zweimal im Jahr, im Frühjahr und im Herbst, die Kataloge mehrerer Versandhäuser, und die Mutter war wochenlang damit beschäftigt gewesen, die Kataloge immer wieder durchzublättern und sich dies und jenes anzukreuzen. Hatten die Landfrauen von Sattlach auch soviel Langeweile wie seine Mutter? Er erinnerte sich, wie er als Kind neben der schweigenden Mutter saß und froh war, daß sie der Versandhauskataloge wegen aus dem Bett gekommen war. Das Sitzen neben der Mutter war wie ein langsamer Eintritt in ihre Gequältheit. Sie erlaubte ihm nach einiger Zeit, mit der Schere die schönsten Figuren aus den Katalogen auszuschneiden und in einer Schuhschachtel zu sammeln. Das von ihr angeregte, von ihr begutachtete und von ihr schließlich für gut befundene Ausschneiden war für ihn fast das Glück. Es kam zweimal im Jahr für ein paar Tage. Der Neckermann-Katalog war zwar dick, aber nicht besonders schön. Viele dieser Kittelschürzenfrauen, die darin abgebildet waren, ähnelten zu stark seiner Mutter. Ähnlich war es mit den Frauen aus dem Quelle-Katalog. Etwas besser waren die Bilder aus dem Katalog vom Otto-Versand in Hamburg; die Farben waren schöner und das Papier war nicht so dünn. Am schönsten war der Katalog eines Pforzheimer Schmuckversandhauses gewesen. Er war auf starkem Papier gedruckt, und die Farben waren so kräftig und schön wie die Farben im Kino. Und weil es sich um Schmuck handelte, waren in diesem Katalog große Frauenköpfe mit Halsketten und langen Ohrringen abgebildet. Wie schön und zufrieden diese wunderbaren Frauen aussahen. Wo lebten diese Frauen nur?
Am folgenden Morgen wurde ein Patient von drei Polizisten abgeholt und in einem grünen Personenwagen weggefahren. Der Mann war erst seit ungefähr zehn Tagen in der Klinik gewesen, und es hieß, daß er wegen Kreditschwindels und Betrugs gesucht gewesen sei. In der Klinik war er wegen einer paranoid-halluzinatorischen Psychose gewesen, und vielleicht hatte er angenommen, hier niemals entdeckt zu werden. Er war ungefähr fünfzig Jahre alt und immer gut gekleidet. Den Frühstücksraum betrat er nie ohne Zeitung; einmal brachte er sogar einen dünnen Aktenordner mit und blätterte darin, während er frühstückte. Der Patient war isoliert, isolierter noch als die meisten anderen Isolierten. Er hielt alle anderen Menschen für Idioten, von denen ihn einige verfolgten, und deswegen redete er manchmal von ein paar gefährlichen Idioten. Aber er redete nicht viel, und er kam (wie Abschaffel) immer spät zum Frühstück, damit er möglichst wenige Patienten sah und von möglichst wenigen gesehen wurde. Und den wenigen zeigte er, daß er sie für arme Würstchen hielt.
Als er abgeholt war, erzählten einige andere Patienten mit spaßiger Überheblichkeit einige Details aus dem Leben des Kreditschwindlers, die sie angeblich selbst von ihm gehört hatten. Vor zwei Jahren schon sind bei ihm die ersten Anzeichen aufgetreten, sagte einer. Und damals hat er auch angefangen, krumme Dinger zu drehen. Er hatte geglaubt, fremdgesteuert zu sein und das Opfer eines Komplotts zu werden, zu dessen Helfern er am Ende auch die Ärzte der Klinik und einige Patienten rechnete. Als ihm (in Sattlach) ein Hase über den Weg lief, behauptete er, das Tier sei ihm absichtlich vorgeführt worden, um ihm deutlich zu machen, daß auch er ein Versuchskaninchen sei. Bei einer früheren Operation habe man ihm einen Sender hinter das rechte Ohr implantiert; schweinische Lieder im
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