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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Ärzte gab, die die Patienten nicht in Ruhe ließen. Es war ein verhangener, früh abgedunkelter Tag. Wahrscheinlich würde es bald wieder schneien. Über die Mittagszeit waren die Geschäfte in Sattlach wie jeden Tag geschlossen. In den Innenräumen der Läden waren die Lichter ausgeschaltet, und hinter mancher Ladentür war sogar ein schwerer Wollvorhang vorgezogen. Zwischen dreizehn und fünfzehn Uhr war kaum jemand im Dorf zu sehen, und wenn doch eine Person umherlief, dann war es gleich so, als käme jemand zum Ausruhen zu spät. Das Leben im Dorf wurde von ein paar großen Regeln geregelt, und eine der Regeln hieß: Von dreizehn bis fünfzehn Uhr hat Leben allgemein zu unterbleiben. Abschaffel war dicht davor, sich beleidigt zu fühlen, weil er niemand auf der Straße sah, wenn er von ein paar Kindern absah. Spürte denn niemand, wie groß die Belastung des Lebens wurde, wenn alle, die es trugen, in ihren Häusern hockten? Das Kleppern und Scheppern von Besteck und Geschirr, das hinter manchen Fenstern zu hören war, hob die Bedrückung der leeren Straßen nicht auf. Aber weil es nicht möglich war, als einzelner gegen große Regeln anzugehen, verließ auch Abschaffel rasch den inneren Dorfkern und ging in Richtung Flußdamm. Dort war zwar auch kein Mensch, aber dort war auch keiner zu erwarten.
    Der Dammweg war schmal und zog sich ausdruckslos entlang des Flusses hin. Links sah Abschaffel auf die Rückseiten von Häusern und Lagerschuppen, auf unordentliche Gärten, die wie große Abstellplätze aussahen, und kleine Gerätehäuser. Rechts floß still und eisig der schmale Fluß. Weiter entfernt erschien die Anlage eines Kleingartenvereins; es waren ein paar niedrige, fleckige Steinhäuser. An einem der Häuser hing ein blechernes Reklameschild, das ein schäumendes Bierglas zeigte. Darunter die Aufschrift: HIER FLASCHENBIERVERKAUF ! Es war kein Mensch da. Wahrscheinlich trafen sich die Sattlacher Kleingärtner nur an Wochenenden. An einen anderen Flachbau war ein Freigehege angebaut, in dem ein Reh unbeweglich stand und fror. Der Boden des Geheges war vom vielen Umherlaufen des Tiers aufgeweicht, und an einigen Stellen, wo sich der Kot mit der Erde vermischt hatte, schwarz und schlammig. Das Reh stand bewegungslos da und sah auf Abschaffel, der vom Damm herunter in das Gehege blickte. Nach einer Weile drehte das Reh seine Ohren nach vorn, und Abschaffel ging weiter. In einiger Entfernung hörte er das Brummen eines Motorrads. Es ergriff ihn eine angenehme Gleichgültigkeit. Er konnte umkehren, er konnte auch weitergehen. Er betrachtete eine schmale Eisenbrücke, die über den Fluß führte. Eine kleine Fabrik, die er zum erstenmal sah, grenzte an das Flußufer. Er konnte nicht erkennen, was in der Fabrik produziert wurde. Oder war sie stillgelegt worden? Hinter der Fabrik erstreckte sich ein Fußballplatz, auf dem ein junger Motorradfahrer mit hohem Tempo Kreise drehte. Die Reifen des Motorrads hatten ein starkes Profil, und der junge Fahrer spreizte die Beine während des Fahrens. Abschaffel sah ihm zu. Wahrscheinlich war es ein junger Sattlacher, der beschlossen hatte, als zukünftiger Geländefahrer seinem Dorf zu entkommen. Der Lärm des Motorrads gefiel Abschaffel sehr gut. Das Motorrad knatterte dunkel und trocken im Schnee umher, und Abschaffel hatte Lust, den jungen Fahrer zu bitten, einmal durch Sattlach zu rasen, so daß alle Leute von ihren Stühlen springen mußten. Noch schöner wäre, wenn Abschaffel selbst ein Motorrad hätte und mitrasen könnte. Nein, das war zu schnell gewünscht. Richtig gewünscht mußte es heißen: Noch schöner wäre, wenn Abschaffel ein Mensch sein könnte, der am Lärmen und Rasen von Motorrädern manchmal Freude haben könnte. Abschaffel und ein Motorrad! Während er dem jungen Geländefahrer immer noch zusah, überlegte er schon längst, was er Dr. Buddenberg heute abend sagen sollte. Er fürchtete sich ein wenig vor seiner Rückkehr nach Frankfurt, weil er ziemlich sicher war, schon am ersten oder zweiten Tag in ein Bordell zu gehen. Er wollte das nicht, aber er würde es tun. Er wollte von seiner Angst sprechen, von seinen törichten Erwartungen und kindischen Erregungen, die ihn in Bordells überfielen. Aber wie war davon zu sprechen? Er glaubte noch immer, Dr. Buddenberg nur solche Geschichten aus seinem Leben erzählen zu können, über die er selbst Bescheid zu wissen vermeinte. Er mußte, wenn er Stunde hatte, immer das Gefühl haben, daß er selbst das System

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