Abschaffel
seiner Mitteilungen jederzeit voll überblickte. Einfach draufloserzählen ging nicht. Er hatte die Einbildung, seine Mitteilungen entsprächen einem von ihm vorher ausgedachten Zuteilungsplan. Dadurch entstand für ihn, wenn er redete, die Illusion, daß er schon vorher alles wußte, und nun erzählte er es bloß weiter. Auf dem Damm wurde es ihm zu kalt. Der Schmerz, wenn der kalte Wind in den Mund hineinwehte und einen Zahn an einer bestimmten Stelle traf, erinnerte ihn an einen früheren Schmerz aus der Kindheit, wenn er im Sommer zuviel Eis auf einmal in den Mund nahm und die Zähne sich unter der Kälte zu krümmen schienen. Zweihundert Meter weiter fuhr eine junge Mutter mit ihrem etwa fünfjährigen Kind mit einem neuen Holzschlitten den kurzen Abhang des Damms hinunter. Abschaffel war froh, daß er noch irgendein Geschehen entdeckt hatte, und ging langsam auf die beiden zu. Die Mutter ging ganz darin auf, dem Kind, einem Jungen, zu Gefallen zu sein. Er fuhr den Damm hinunter, und sie rannte neben dem Schlitten her und zog ihn dann wieder den Damm hoch. Wenn sie selbst mitfahren wollte, nörgelte und greinte der Junge so lange, bis sie ihre Absicht aufgab. Abschaffel kam näher und war gerührt über den Anspruch des Kindes, alles zu kriegen, alles zu dürfen und alles zu erwarten. Ein grenzenloses Leben! Einmal eilte die Mutter nicht sofort den Damm hinunter, um den Schlitten wieder hochzuziehen, sondern versuchte das Kind zu erziehen. Jetzt nimmst du die Kordel und ziehst den Schlitten selbst hoch, rief sie von oben herunter. Der Junge jammerte nur. Wieder sprang sie den Damm hinab und zog den Schlitten ein weiteres Mal hoch. Bald wurde dem Kind auch das Laufen zuviel. Der Junge streckte, wenn er unten angekommen war, der Mutter beide Arme entgegen und verlangte, hochgetragen zu werden. Diesen Antrag allerdings lehnte die Mutter entschieden, fast zornig ab. Dann gehen wir nach Hause, sagte sie. Allerdings hatte Abschaffel den Eindruck, daß sie diese drohenden, verneinenden Sätze auch ein wenig zu ihm hin sagte, weil sie vor dem Fremden nicht als bloße Hilfsperson eines Kindes dastehen wollte. Er ging eben an ihr vorbei, und er versuchte, so gut er konnte, einen unbeteiligten Eindruck von sich zu geben. Da hörte er, wie das Kind von unten rief: Ich bin jetzt tot, du mußt mich tragen. Der Junge hatte sich mit dem Rücken in den Schnee gelegt, Arme und Beine von sich gestreckt und die Augen geschlossen. Um den Mund herum war eine leicht zitternde Bewegung, die nicht zur Ruhe kam, weil sie das Vergnügen des Kindes an seiner Verstellung ausdrücken mußte. Steh bitte auf, du erkältest dich, rief die Mutter hinunter. Ich kann nicht, ich bin tot, antwortete das Kind. Abschaffel blieb stehen und betrachtete das Kind. Die Mutter wußte anscheinend nicht mehr, zu welchen Mitteln sie greifen sollte. Abschaffel bemerkte, daß er das Kind zu bewundern begann. Er staunte darüber, wie es möglich war, daß das Kind schon jetzt über den größten Schrecken der Menschen Bescheid wußte. Die Mutter machte einen bekümmerten Eindruck. Wahrscheinlich wird sie am Ende doch hinuntergehen und das Kind aufheben, dachte Abschaffel. Es schien ihr unangenehm zu sein, daß Abschaffel in der Nähe stehengeblieben war. Er fand immer größeren Gefallen am Verhalten des Kindes. Er überlegte schon, bis zu welchem Lebensalter das Kind die Methode des Totstellens beibehalten konnte. Ob es sich auch zu Hause totstellte, am Tisch zum Beispiel, wenn es keinen Rosenkohl oder keinen Spinat essen wollte? Fiel es dann einfach vom Stuhl herunter und mußte ins Bett getragen werden? Herrlich! O Gott, welch einen ungezügelten Unfug reimte sich Abschaffel wieder zusammen. Er merkte es, als ihm im gleichen Augenblick, als seine Bewunderung für das Kind so unangefochten strömte, seine Mutter einfiel, die sich doch auch jahrelang totgestellt hatte, und an diesen Totstellungen litt er noch heute. Sein Interesse für das Kind und die junge Mutter war wie weggewischt, und sein Kopf füllte sich langsam und stetig mit den Erinnerungen an seine eigene Mutter. Er lief den Damm zurück. In seinem Hinterkopf saß seine Mutter und ließ ihm ihre Geschichte in sein Denken fließen. Ein einziges großes Bild beherrschte sein ganzes Muttergrübeln: Wie sie schon am frühen Nachmittag im Nachthemd in der Wohnung herumschlurfte, zwei Kopfschmerztabletten nahm und sich ins Bett legte. Gewöhnlich war, wenn Abschaffel als Kind von der Schule nach Hause kam,
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