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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Erst das Licht in seinem Zimmer vergrößerte wirksam die Entfernung zu seinem Traum. Die Panik wich, als er erkannte, daß alles ihm geblieben war. Er stieg aus dem Bett und stellte sich vor den Spiegel. Sein linkes Auge war gerötet vom vielen Reiben, und als er mit dem Gesicht nahe beim Spiegel war, sah er, daß eine Wimper in der unteren Augenhälfte schwamm. Er begann die Wimper aus dem Auge herauszuholen, wie er es einst von der Mutter gelernt hatte. Und wie immer entstand ein leichter Schmerz, als er mit der Fingerkuppe den Augapfel berührte und die Wimper herausholte. War die Wimper im Auge der Auslöser des Traums? Mitten in der Nacht begann er, über den Traum nachzudenken. Es lag auf der Hand, daß das abgebrannte Bauernhaus in seinem Traum eine Rolle spielte. Aber welche? Warum war er selbst so grauenvoll gestorben? Auch noch mit zwei Toden, als würde einer nicht hinreichen. Und wer war der Mann, der das Feuer gebracht hatte? Natürlich hatte er keine Möglichkeit, an die Antworten auf diese Fragen heranzukommen. O Gott, blieb er immer nur als der blöde Rest seines eigenen Lebens zurück? Er mußte pinkeln, und weil er in der Nacht nicht auf den Flur gehen wollte, pinkelte er in das Waschbecken. Erleichtert und müde legte er sich ins Bett und schlief bald wieder ein.
    Am Morgen überlegte er, ob er Dr. Buddenberg den Traum erzählen sollte. Er wußte den Traum zwar nicht mehr so genau wie in der Nacht, aber die wichtigsten Bilder waren ihm noch im Kopf. Auch das war ungewöhnlich für ihn, weil er seine Träume in der Regel vergaß. Aber da fiel ihm wieder ein, daß er gar nicht mehr glaubte, daß Dr. Buddenberg fremder Leute Leben wirklich verstehen konnte. Überhaupt wollte Abschaffel in den letzten eineinhalb Wochen so tun, als sei er in einem Hotel, in dem ihn niemand behelligte. Die Ärzte in ihren weißen Kutten wollte er übersehen, und die Schwestern ließen sich notfalls als Bedienungspersonal erleben. Spazierengehen und schwimmen, essen und ausruhen: das wollte er tun. Sein Vergnügen am Schwimmen war immer noch groß, und es war ihm sogar gelungen, an sich selbst nicht mehr Anstoß zu nehmen, wenn er eine Badekappe trug. Er stand lange vor dem Spiegel und überlegte, ob er die Badekappe bis über die Ohren herunterziehen sollte, so daß sein Kopf aussah wie ein großes Ei, oder ob es nicht besser wäre, die Ohren nicht unter der Badekappe zu verstecken. Diese Faxen vor dem Spiegel erinnerten ihn an das Grimassieren von Kindern, und durch diese Erinnerung gelang es ihm endlich, wenigstens zeitweise von seinem eigenen Ernst Abstand zu nehmen. Einmal fühlte er sich beim Schwimmen sogar so gut, daß ihm eine wunderschöne Idee kam. Er überlegte, ob er im nächsten oder übernächsten Jahr wieder eine Kur machen sollte, nicht in Sattlach, sondern anderswo, und nicht als Kranker, sondern als Gesunder. Er stellte sich vor, wie schön es wäre, wenn er jedes Jahr sechs Wochen lang Gelegenheit hätte, sich wieder aufpolieren zu lassen. Allerdings müßte er dann so tun, als wäre er krank; noch besser wäre, wenn er eine Krankheit hätte, die nach außen hin schlimmer aussah, als sie in Wirklichkeit war. Und war es nicht glaubhaft, wenn jemand, der schon einmal in einer Klinik gewesen war, immer wieder in die Klinik mußte oder wollte? Für eine halbe Stunde fand er alles, was ihm zu diesem Zusammenhang einfiel, so phantastisch, daß er sich selbst so gut fühlte wie das, was er dachte. Er schwamm leicht und voller Lust auf und ab und konnte noch nicht einmal feststellen, worin die Lust eigentlich bestand.
    Leider gelang es ihm nicht, sich für den letzten Teil seines Kuraufenthalts nur wie ein Hotelgast zu fühlen. Eines frühen Nachmittags, als er zu einem Spaziergang aufbrach, traf er im Foyer auf Dr. Buddenberg. Freundlich kam er auf Abschaffel zu und fragte, ob er die Stunden nicht wiederaufnehmen wolle. Abschaffel war so überrascht über die direkte Art von Dr. Buddenberg, daß er sofort zusagte. Heute abend um sechs habe ich eine Stunde frei, sagte Dr. Buddenberg, wollen Sie nicht kommen? Und Abschaffel nickte. Freundlich verabschiedete sich der Analytiker, und Abschaffel war gekränkt, weil jemand seinen Rückzug bemerkt hatte. Er hatte sich schon gar nicht mehr als richtiger Patient gefühlt.
    Verdrossen machte er sich auf den Weg. Es war wohl doch keine besonders glückliche Idee, sich von einer mittleren Krankheit Dauererleichterungen für die Zukunft zu versprechen, wenn es so viele

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