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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Das bedeutet aber einen ungeheuren Verschleiß des Erlebens, und während dieses Verschleißes geschieht mit jedem Familienmitglied etwas Unheimliches: Jeder hat nämlich durch das ständige Vergessenmüssen seiner selbst das Gefühl seiner Wertlosigkeit bekommen. So ist es mir ergangen, glauben Sie mir, Herr Dr. Buddenberg. Ich bin davon überzeugt, absolut wertlos zu sein. Denn dieses Vergessen ist zwar eine Methode, die familiären Tageskränkungen zu überwinden, aber man selbst geht dadurch in winzig kleinen Raten verloren. Und in dem Augenblick, so erkläre ich mir das, wenn jemand – wie ich – aus der Familie ausscheidet, spürt er sofort seine Wertlosigkeit und Nichtigkeit. Man hat ja alles den anderen gegeben, und es ist nichts mehr da von einem selbst! Das eigene Leben ist in das Leben der anderen eingegangen und von ihnen nicht mehr ablösbar, und deswegen ist man bloß ein Wesen geworden, aber keine Person, ja? Und der Schmerz ist wahrscheinlich der Ausdruck des Verrats an der eigenen Würde, der sich im jahrelangen Vergessen angesammelt hat und nun als nicht zu stillender Schmerz überlebt. Diesen Schmerz muß ich dauernd aushalten. Diesen Schmerz könnte ich nur beseitigen, wenn es mir gelingen würde, meine auf meine Familie verteilte Person wieder einzusammeln, und eben das geht nicht. Die Angst vor diesem Schmerz ist ja der Grund, warum so viele gräßliche Familien so prächtig zusammenleben. Aber ich kann doch nicht, rief Abschaffel aus, zu meinen Eltern zurückkehren, nur damit dieser Schmerz endlich aufhört!
    Er erhob sich zitternd. Er genierte sich und schämte sich und wollte weg. Dr. Buddenberg erhob sich ebenfalls. Ruhen Sie sich aus, sagte der Analytiker. Abschaffel hatte die Türklinke in der Hand. Es war, als hätte er bei Nachbarn etwas Schlechtes über die Eltern gesagt und seine Mutter hätte es eben erfahren. Kommen Sie bitte übermorgen um die gleiche Zeit zum Schlußgespräch, sagte Dr. Buddenberg. Ja, sagte Abschaffel.
    Die Entdeckung, daß er, wenn er ins Bordell ging, eigentlich seine Mutter hassen wollte, war etwas Unerhörtes für ihn. Er staunte, und es brach ihm der Schweiß aus. Er ging in sein Zimmer und sah in das weiße Rund des Waschbeckens, weil er hoffte, sich durch die Leere dieses Anblicks wieder zu beruhigen. Er beruhigte sich nicht, im Gegenteil. Denn es fiel ihm ein, daß er fast jedesmal, wenn er in einem Bordell war, pinkeln oder scheißen mußte. In fast jedem größeren Bordell gab es geräumige Toilettenanlagen und lange Pinkelwände, und oft hatte sich Abschaffel darüber gewundert, weshalb so viele Männer fast automatisch auf die Toilette mußten, ehe sie zu den Frauen gingen. Und wenn es stimmte, was Dr. Buddenberg und er herausgefunden hatten, dann haßte er seine Mutter so sehr, daß er sie hier nicht nur verachten und hassen, sondern wütend anpissen und anscheißen wollte. Eine Weile überlegte er, ob alle Männer, die in Bordellen verkehrten, so ungeklärte Beziehungen zu ihren Müttern hatten wie er selber. In diesen Augenblicken haßte Abschaffel seine Mutter mit Kraft und vollem Bewußtsein. Er floh nicht in das ewig bereitstehende schlechte Gewissen und verbiß sich nicht in Selbstvorwürfen, die den Haß wieder halb zurücknahmen. Sentimental und blödsinnig ließ er sich auf das Bett sinken und sah an die Decke. Kalt und durchsichtig sah er seinen Haß auf die Mutter. Die Freiheit, die Mutter hassen zu dürfen, mußte er mit dem würgendsten Schmerz bezahlen, der jemals aus seinem Körper hoch in die Kehle gestiegen war. Diese Schlampe, diese elende, die sich jahrelang ins Bett legte und sich aushalten ließ, dieser stinkende, faule Fleischberg. Weil er meinte, vielleicht zu ersticken, hustete er ein wenig, damit er besser atmen konnte. Würgte ihn seine Mutter? Dieses arbeitsscheue Miststück, das sich einfach Kinder machen ließ und sich dann zur Ruhe legte und ihre Kinder in die ewige Trauer schickte wie in ein Mutterverlies. O Gott, sein Haß brachte nie gedachte Sätze hervor, die er von sich wegflüsterte wie Losungen. Zugleich fühlte er die Angst vor der Vergeltung der Mutter. Er klammerte sich mit beiden Händen am Bettrahmen fest, als würde er gleich abgeholt und endgültig in das dunkle Mutterverlies gesteckt. Er erhob sich und verschloß sein Zimmer. Er hörte, wie draußen im Flur ein Patient vorbeilief und mit zischender Stimme dreimal das Wort Scheiße ausstieß. Abschaffel legte sich wieder auf das Bett und ahmte die

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