Abschaffel
Infolgedessen haben Sie alles, was sich ereignete, als bedrohlich nah erlebt. Durch diese Überstimulierung durch übergroße elterliche Nähe hat sich für Sie eine strukturelle Störung ergeben, eine Art Beeinträchtigungswahn, will ich mal sagen, aus dem Sie sich allein nur schwer befreien können. Deswegen rate ich ihnen zu einer weiteren Analyse.
Dr. Buddenberg schien zu Ende gesprochen zu haben und schwieg ein wenig. Und vergessen Sie nicht die Bewegung, sagte er dann und erhob sich, das dürfen Sie auf keinen Fall auf die leichte Schulter nehmen. Am liebsten hätte Abschaffel geantwortet, daß er noch niemals leichte Schultern gehabt hatte, aber noch mehr verspürte er das Bedürfnis, Dr. Buddenberg zu danken. Aber natürlich genierte er sich. Der Beeinträchtigungswahn! So stand er nur da. Wollte Dr. Buddenberg, daß er nun ging? Wahrscheinlich. Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und sagte in einem anderen, verabschiedenden Tonfall: Die Psychoanalyse müssen Sie sich ungefähr wie ein Kettenkarussell vorstellen. Sind Sie schon einmal mit einem solchen Karussell gefahren? Abschaffel nickte. Schön, nicht? sagte Dr. Buddenberg. Da setzt man sich unten rein in eine Sitzgondel, und wenn es losgeht, fliegt man in seinem Sitz immer höher, mit jeder Runde. Es ist wunderschön, den Rummelplatz und womöglich die halbe Stadt von oben zu sehen. Aber man kann nicht oben bleiben. Gerade wenn man angefangen hat, die Stadt genauer von oben zu betrachten und einen Überblick zu gewinnen, senken sich die Gondeln wieder nach unten. Für ein paar Augenblicke hat man ein paar Dächer gesehen und hatte das Gefühl, dem Gesamteinblick ganz nahe zu sein. Dann gleitet der Blick leider wieder abwärts, und man sieht wieder nur das, was man immer sieht. Man muß noch mal fahren und noch mal fahren und noch mal fahren, um immer mehr zu sehen. So ähnlich ist es mit der Psychoanalyse. Man muß sich erinnern und sich erinnern und sich erinnern, damit man an die Quellen des seelischen Geschehens allmählich herankommt, verstehen Sie? Abschaffel nickte. Dr. Buddenberg gab ihm die Hand, und wortlos verließ Abschaffel die Praxis.
Er ging gleich in sein Zimmer. Er fühlte sich angenehm verwirrt. Obwohl sein Koffer schon gepackt war, legte er ihn noch einmal auf den Tisch und nahm einzelne Gegenstände heraus, fühlte sie an und legte sie wieder zurück. Was sollte er mit der Tennisballhälfte machen? Er wollte sie nicht einfach in den Papierkorb werfen, und er wollte sie auch nicht mit nach Hause nehmen. Während er noch überlegte, was er mit dem halben Tennisball anstellen sollte, sprach er einige Sätze von Dr. Buddenberg nach. Sie erinnern sich reichhaltig und präzise, das ist erfolgversprechend. Er wußte nicht, wie er dieses Lob einordnen sollte. Begabt für eine Behandlung! Abschaffel öffnete das Fenster und sah hinaus. Er mußte dieses merkwürdige Lob zerstreuen. Obwohl er sich zugab, daß es für ihn schön wäre, wenn Dr. Buddenberg sein Kollege bei Ajax werden könnte. Ronselt, sein Schreibtischgegenüber, mußte versetzt werden, und Dr. Buddenberg nahm seinen Platz ein, und dann könnten sie stundenlang über den Beeinträchtigungswahn sprechen und nebenher ein paar Waggons nach Augsburg, Hannover und Stuttgart fertig machen. Aber leider war Abschaffel nicht der Personalchef bei Ajax. Er entschied sich doch dafür, den halben Tennisball mit nach Hause zu nehmen. Vielleicht hänge ich ihn zu Hause an die Wand, überlegte er.
An einem nassen Mittwoch in der zweiten Februarhälfte traf Abschaffel in Frankfurt ein. Die Eisenbahnfahrt hatte ihn ungeduldig gemacht, und er war froh, am frühen Nachmittag endlich den Zug verlassen zu können. Im Hauptbahnhof überlegte er eine Weile, ob er mit der U-Bahn oder mit dem Taxi nach Hause fahren sollte. Aber er freute sich auf die Wiederbegegnung mit der U-Bahn, und so nahm er seine beiden Koffer und fuhr mit einer Rolltreppe in einen U-Bahnhof hinunter. An der Haltestelle wartete ein großer junger Neger, der einen schmalen schwarzen Kamm in seinen Haaren stecken hatte. Offenbar hatte der Schwarze es satt, den Kamm immer wieder in die Hosentasche zu stecken. Nachdem er eine Weile über den Kamm am Kopf des Schwarzen befremdet war, fand Abschaffel den Einfall des Schwarzen praktisch. Er selbst ließ seinen Kamm immer wieder auf Toiletten und Fensterbänken liegen, und er war deswegen dazu übergegangen, überhaupt keinen Kamm mehr mit sich zu führen. Kollege Ronselt war diesem
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