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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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die Tiere niemals ihre Bewertungen erfuhren. Obwohl manche von ihnen so aussahen, als kennten sie ihre Bewertungen besser als ihr Leben. Am unbarmherzigsten waren die Eintragungen in der Kategorie WÜNSCHE . Nach Auffassung der Züchter konnte kaum ein Tier so bleiben, wie es war. SCHNABELANSATZ KRÄFTIGER! stand an einem Käfig. EINE IDEE MEHR STIRN an einem anderen. Oder: BAUCHFARBE SATTER ERWÜNSCHT . Am Käfig einer großen, stillen Taube las er die Bemerkung: ETWAS MEHR FUSSWERK , und am Käfig einer anderen: AUGE REINER! War es denn möglich, daß Menschen in ihrer unersättlichen Wunschkraft sich Tiere sogar anders wünschten, als sie waren und sein konnten? War es denn zu fassen, daß es Menschen gab, die einem Vogel das Auge reiner machen wollten? Und wie?
    Abschaffel verließ die Ausstellung. Nachlässig betrachtete er die drei Bauern, die die Ausstellung bewachten und betreuten. Aus Enttäuschung kaufte er sich im Vorraum bei der Tombola ein Los. Er hoffte, eine Niete zu ziehen, und wirklich war es eine Niete. Auf der Innenseite des aufgerollten Lospapierchens las er den Spruch: GEH ZUM DOKTOR, DENN DU HAST PECH. Die Dummheit dieses Spruchs paßte so gut zur Hoffnungslosigkeit dieses ganzen Dorfes, daß Abschaffel noch zwei weitere Lose kaufte. Auf der einen Niete las er: SIEHST DU, SO SIEHT EINE NIETE AUS , und auf der anderen: EINMAL KOMMT DAS GLÜCK AUCH ZU DIR.
    Mit unerwartet heftigem Abscheu lief er in Sattlach umher. Er hatte das Gefühl, es nur noch deshalb hier auszuhalten, weil er sich immerzu sagen konnte: Es ist das letzte Mal, es ist das letzte Mal. Einmal fiel ihm sogar Dr. Buddenberg ein, und er fragte sich, wie er es hier aushielt. Abschaffel kam an ein zweigeschossiges Haus in der Hauptstraße, dessen Erdgeschoß gerade umgebaut wurde. Erleichtert sah er eine Weile den Bauarbeiten zu. Das Erdgeschoß war in seiner ganzen Breite geleert. Vorn waren mehrere Stützbalken in den Bürgersteig eingerammt. Wahrscheinlich wurde im Erdgeschoß ein Ladengeschäft eingerichtet. Abschaffel sah eine Weile den Arbeitern zu. Zwei von ihnen hämmerten in dem leergeräumten Erdgeschoß herum, zwei andere fuhren auf Schubkarren den Mörtel heraus und schütteten ihn draußen auf einen Haufen. Hinter den Gardinen eines Fensters im Obergeschoß erschien eine Frau und zog die Gardinen zur Seite. Abschaffel staunte, wie er bisher nicht in Sattlach gestaunt hatte. Er hatte angenommen, daß das Haus während der Bauarbeiten unbewohnt war. Aber die Leute im Obergeschoß lebten weiter, als wäre ihnen nicht das Erdgeschoß ausgeräumt worden. Jetzt erst sah Abschaffel, daß hinter allen drei Fenstern des Obergeschosses ruhige Gardinen hingen. Die Frau am Fenster war bereits wieder in der Tiefe des Raums verschwunden. Wahrscheinlich hatte sie sich nur kurz vergewissert, daß draußen alles in Ordnung war. Verwirrt ging Abschaffel weiter. Nicht eine Stunde würde er es in einem Haus mit ausgeräumtem Erdgeschoß aushalten. Er würde ein solches Haus nicht einmal betreten können.
    Sollte er, zum letztenmal und zum Abschied, noch einmal auf die Post gehen und ein wenig dort herumstehen und herumschauen? Eigentlich langweilte er sich schon wieder. Er betrat den Vorraum der Post. Erstaunlich viele Menschen hielten sich hier auf, füllten Formulare aus oder warteten vor den beiden Schaltern. Sogar ein Hund lag so endgültig in einer Ecke, als wäre die Post seine Wohnung. Der Hund hatte den Kopf zwischen den ausgestreckten Vorderpfoten auf dem Boden liegen, und manchmal öffnete er halb die Augen und sah, was sich vor den Schaltern zutrug. Schon bald versuchte eine Frau, den Hund anzusprechen. Der Hund bewegte kurz den Schwanz, hob den Kopf und legte ihn dann wieder nieder. Abschaffel verhöhnte ein wenig die Frau und reihte sich in eine der beiden Warteschlangen ein. Er wollte, um etwas zu tun, Briefmarken kaufen. Auf dem kleinen Bänkchen, auf dem die Leute ihre Zahlkarten ausfüllten, lag eine aufgeschlagene Bild-Zeitung, die niemand mitnahm und niemand wegwarf. Sie wurde immer wieder hin- und hergeschoben, und fast jeder, der an der aufgeschlagenen Zeitung vorüberging, las im Gehen ein oder zwei Schlagzeilen und ging dann weiter. Einer der beiden Schalterbeamten zerschnitt mit einem Taschenmesser einen kleinen roten Apfel in acht gleichmäßig aussehende Schnitze. Während er den Brief eines Gastarbeiters wog und frankierte, verteilte er in den freien Phasen dieses Vorgangs die acht Apfelschnitze in verschiedenen

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