Abschaffel
Kleintierzüchter für die Besucher der Ausstellung aufgebaut. Abschaffel war im Zweifel, ob er hingehen sollte oder nicht. Einerseits gab es in Sattlach für ihn nichts mehr zu sehen, und in dieser Lage war eine solche Tierschau eine Abwechslung. Vielleicht sah er einen wunderschönen weißen Hasen oder eine schöne Taube. Andererseits ahnte er, daß ihn die Ausstellung wahrscheinlich deprimierte. Er wollte sich diese langweiligen Tiere ansehen, damit er selbst hinterher über Langeweile klagen konnte. Am Ende wollte er sich wieder nur selbst als kleines Tierchen vorkommen, das ewig eingesperrt war. Er freute sich, daß es ihm gelungen war, sich zu durchschauen. Mit allen guten Vorsätzen machte er sich auf den Weg.
Es war sein letzter Spaziergang, sein letztes Umhergehen in Sattlach. Während des Gehens geriet ihm ein kleiner Stein in den linken Schuh. Er begann den Stein mit eindringlichen Bewegungen der Zehen in die Ritze zwischen dem größten und dem zweitgrößten Zehen zu drücken. Dort konnte er ihn halbwegs bequem halten und trotzdem fast ungehindert weitergehen. Diese Technik hatte er auf den Schulwegen in der Kindheit erlernt. Bei jedem Schritt mußte er die haltenden Zehen leicht krümmen, damit der Stein nicht wegrollen konnte. Sogar mit in die Kleintierzuchtausstellung nahm er den Stein. Der Keller der alten Volksschule stank nach dem Kot von Hunderten Kleintieren. Drei alte Männer saßen am Eingang des Gewölbes, kassierten das Eintrittsgeld und bewachten die Preise der Tombola. Ein Los kostete fünfzig Pfennig, und zu gewinnen gab es Wein, Porzellanschalen, Puppen, billigen Schmuck, kleine Lampen, Haushaltsgeräte.
In vier Reihen standen und saßen in Käfigen und Volieren die Tiere. Jedes Tier war für sich allein. Hasen, Hühner, Hähne, Gänse, Enten, Tauben, in einer anderen Reihe Singvögel, Sittiche, Wachteln, Kanarienvögel. Abschaffel fing bei den Hasen an. Jedes Tier trug auf der Innenseite eines Ohrs einen Stempel mit einer violetten Nummer. Fast jeder Hase saß längs an der hinteren Wand seines Käfigs. Ihre flachen roten Augen sahen aus, als würden sie nirgendwo hinsehen. Aber wahrscheinlich entging ihnen nichts. Beim Anblick der vielen Hasen fiel Abschaffel das Wort Angsthase ein, und wirklich, wenn ein Wort die Haltung eines Tiers richtig beschrieb, dann war es das Wort Angsthase. Die Tiere saßen still da wie saubere Wollknäuel. Nur das obere Drittel ihrer feuchten Nasen zitterte unablässig auf und ab. Manchmal rieben sie die Kiefer aufeinander, auch dann, wenn sie gar nichts kauten. Die Gänse und Enten in der nächsten Käfigreihe saßen ebenfalls im hinteren Drittel ihrer Gehäuse. Die Enten streckten die Köpfe in die rechte Ecke ihrer Käfige. Die meisten von ihnen hatten die Augen geschlossen. Die rosa Haut ihrer Augendeckel sah aus, als wüßten die Tiere genau, daß sie ein künstliches Leben führten. Die Hühner und Hähne standen unbeweglich auf ihren verknorpelten Füßen. Nur manchmal schüttelten sie krampfartig die Köpfe, so daß die roten Lappen an ihren Schnäbeln hin- und herwackelten. Wenn sich Besucher über die Käfige beugten, schrien und gackerten sie an der hinteren Drahtwand entlang. Einige Kinder stießen mit Strohhalmen in ihre Käfige hinein. Daraufhin fiel manchem Huhn ein wenig Kot hinten heraus. Als Abschaffel die kotenden Tiere sah, erinnerte er sich an den Schluß eines Kriminalfilms, den er vor vielen Jahren einmal im Fernsehen gesehen hatte. Als die Verbrecher am Schluß des Films zur Hinrichtung geführt wurden und dann am Galgen hingen, öffneten sich in den letzten Lebenssekunden ihre Schließmuskeln. Der allerletzte Eindruck ihres Lebens waren aus Angst vollgeschissene Hosen. Dieses Detail hatte Abschaffel nicht vergessen können, und hier fiel es ihm wieder ein: Wahrscheinlich hatten die Tiere dieselbe Todesangst. Obwohl es nur Kinder waren, die mit Strohhalmen nach ihnen stachen.
Ganz hinten hockten die Tauben. An jedem Käfig hing ein kleiner Kasten, und in jedem Kasten steckte eine Bewertungskarte. Auf jeder Karte waren die Kategorien VORZÜGE, WÜNSCHE und MÄNGEL aufgedruckt, und darunter standen handschriftliche Eintragungen. Sofort ging Abschaffel dazu über, nicht mehr die Tiere anzusehen, sondern nur noch die Bemerkungen auf den Bewertungskarten zu lesen. Auf den meisten Karten waren nur Herabsetzungen eingetragen. Einmal hieß es: TIER IST NOCH GANZ UNFERTIG. Oder: TIER IST ZU ALT FÜR AUSSTELLUNG . Abschaffel war froh, daß
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