Abschaffel
Ecken seines Arbeitsplatzes. Einen Schnitz legte er neben die Waage, einen anderen neben die Schreibgarnitur, zwei weitere in ein offenes Fach in der rechten Schreibtischhälfte. Einen Schnitz legte er genau neben sein tiefschwarzes Stempelkissen. Zugleich bediente er die Postkunden; Abschaffel wollte sehen, welchen Schnitz er zuerst aufaß. Seiner Meinung nach sollte der Beamte mit dem Schnitz neben dem Stempelkissen beginnen, denn dieser war durch die Arbeitsvorgänge des Beamten am meisten gefährdet. Wenn er mit dem Stempel versehentlich neben das Stempelkissen schlug, war der Apfelschnitz mit Sicherheit zerstört. Tatsächlich! Der Beamte aß zuerst den Schnitz neben dem Stempelkissen auf, und er bemühte sich, die Geräusche des Kauens möglichst zu drosseln, indem er mit geschlossenem Mund langsam und mahlend kaute.
Am Morgen des folgenden Tages erwartete ihn der Analytiker zum Schlußgespräch. Dr. Buddenberg setzte zu längeren Erklärungen an. Zunächst wiederholte er, was schon Dr. Haak gesagt hatte: daß Abschaffel in Zukunft einem regelmäßigen Bewegungstraining nachgehen müsse, und er ermahnte ihn eindringlich, diesen Rat nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Dann ging er dazu über, ihm zu sagen, was er über sein Leben herausgefunden zu haben meinte. Schon ziemlich früh haben Sie vom Gruppengespräch keinen Gebrauch mehr gemacht, sagte Dr. Buddenberg, und Sie haben mir später einmal gesagt, daß Sie sich in diesen Gruppen nicht wohl gefühlt hätten, weil dauernd andere Patienten redeten und weil Sie nicht schon wieder in Situationen sein wollten, in denen Sie nicht zu Wort kamen. Es fiel Ihnen dazu die Grundsituation Ihrer Familie ein: Sie fühlten sich immerzu überfahren von den Erlebnissen der anderen. Sie sind dann nur noch zu mir gekommen, und Sie haben damit Ihren Therapieplan selbständig eingeschränkt, was eigentlich unzulässig ist. Aber weil Ihre Analyse, oder besser: die wenigen Bruchstücke einer Analyse, die wir seither zusammengetragen haben, nicht unergiebig waren, haben wir Ihren Rhythmus nicht stören wollen. Wenn ich nun versuche, unsere Sitzungen zu kommentieren, kann ich es nur mit der Einschränkung tun, daß meine Kommentare die Möglichkeit des Irrtums einschließen. Es ist sogar wahrscheinlich, daß ich da und dort irre. Die Wahrscheinlichkeit von Irrtümern ist deswegen so groß, weil ich zuwenig weiß von Ihnen. Ich würde Ihnen, und das ist eigentlich das Wichtigste, was ich Ihnen überhaupt sagen will, ich würde Ihnen raten, zu Hause eine regelmäßige und normale Analyse zu machen. Sie sind dazu begabt. Sie erinnern sich reichhaltig und präzise, und Sie können Ihre Erinnerungen in der Regel ausdrücken. Das ist viel wert und erfolgversprechend für eine weitere Behandlung. Ich würde Ihnen also raten, zu Hause einen Analytiker anzurufen und mit ihm eine Behandlung zu vereinbaren. Sie wohnen ja in Frankfurt, nicht wahr; ich gebe Ihnen eine Liste mit den Adressen von dortigen Psychoanalytikern mit, unter denen Sie wählen können. Sie müssen damit rechnen, daß Sie einige Monate warten müssen, ehe eine Behandlung beginnen kann.
Dr. Buddenberg redete weiter, und Abschaffel versuchte ihm weiter zuzuhören. Eigentlich wollte er ihn fragen, welche Krankheit er denn nun eigentlich habe, aber er traute sich nicht. Nach allem, sagte Dr. Buddenberg, was ich von Ihnen gehört habe, kann ich mit Vorsicht das folgende andeuten. Das Versagen Ihrer Mutter hat bei Ihnen zur phasenweisen Umkehrung familiärer Grundpositionen geführt. Anders gesagt: Sie mußten damit fertigwerden, daß Ihre Mutter eigentlich das Kind war und Sie der Vater, der die Mutter aus Ihrem Unglück meinte erlösen zu müssen. Im Grunde meinen Sie das wahrscheinlich heute noch. Natürlich waren und sind Sie damit überfordert, und in der Panik des Überfordertseins befinden Sie sich bis heute, wie mir scheint. Sie glauben, Ihre Mutter wartet noch immer auf Sie. Sie erliegen also der Täuschung, noch immer zu Hause bei Ihrer Mutter zu sein und zuerst sie erretten zu müssen, ehe Sie etwas für sich selbst tun können. Von hier aus ergibt sich auch ein Zugang zur Starrheit Ihres Berufslebens. Es ist, als hätten Sie sich absichtlich eine Beschäftigung gewählt, die Sie unterfordert, damit Ihre Hauptenergie weiterhin in die Lebenszusammenhänge Ihrer Herkunftsfamilie einfließen kann. Überhaupt ist Ihre ganze Kindheit durch eine offenbar übergroße emotionale Nähe Ihrer Eltern gekennzeichnet.
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