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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Fahrt langsam sei, könne sie sich besser darstellen.
    In Wahrheit war er des Eilzugs schon überdrüssig geworden. Der Zug hielt in Abständen von höchstens zehn Minuten, und die Ortschaften, die während des Haltens zum Vorschein kamen, mußte die Verzweiflung erschaffen haben. Abschaffel konnte gar nicht lange auf diese nassen kleinen Bahnhöfe sehen, noch weniger auf die zwei oder drei Personen, die an jeder Station ein- und ausstiegen. Dabei tadelte er sich und warf sich vor, es ginge nicht an, die Menschen nicht ansehen zu wollen, im Gegenteil, gerade die krummen Menschen auf Kleinstadtbahnhöfen müsse man jede Minute im Auge behalten, damit niemals eine Täuschung über die Hoffnungslosigkeit möglich sei.
    Er hatte begonnen, Kafka zu lesen, und er blickte nur noch selten und dann kurz aus dem Fenster hinaus. Eine ganze Zeit lang, bevor er mit dem Lesen angefangen hatte, hatte ihm ein älterer Arbeiter gegenübergesessen, die Bild-Zeitung lesend. Abschaffel hatte sich nicht getraut, in Gegenwart des Zeitung lesenden Arbeiters sein Buch herauszuholen, weil er fürchtete, der Mann könnte sich gedemütigt fühlen, wenn er sah, daß er nur eine Zeitung, sein Gegenüber aber ein Buch las. Abschaffel hatte sich nicht hervorheben wollen und so getan, als sei er noch weniger als dieser Arbeiter, weil er noch nicht einmal eine Zeitung, sondern gar nichts zu lesen hatte.
    Nun aber war Abschaffel allein im Abteil, und er las und las. Er las die Erzählung DIE VERWANDLUNG, und je länger er las, desto weniger konnte er sich für irgend etwas anderes interessieren als für diese Erzählung. Kafka beschrieb den müden Familienvater Samsa, wie er in einem Sessel sitzt, umgeben von Frau, Tochter und Sohn Gregor. Der Vater schläft jeden Abend in seinem Sessel ein, und die beiden Frauen wollen ihn zum Bettgehen bewegen, ohne Erfolg. Der müde und im ganzen unansehnliche Vater wurde von Kafka mit Sympathie beschrieben, und Abschaffel erinnerte sich plötzlich, daß auch sein Vater oft am Abend einschlief. Abschaffels Vater saß im Wohnzimmer auf der Couch, die Arme über dem Bauch verschränkt, der Kopf lag seitlich auf einer der Schultern, so daß der Hals spannte, und schlief und schnarchte. Für Kafka war der schlafende Vater immer noch ein mächtiger und starker Vater, für Abschaffel hingegen wurde der schlafende Vater ein schwacher Vater. Je länger, geräuschvoller und tiefer er schlief, desto mehr wandte sich das Kind Abschaffel von ihm ab. Es war für das Kind so unerträglich, den Vater schon am frühen Abend schlafend zu finden, daß es sein eigenes Leben dadurch eingeschränkt sah. Wenn der Vater immer schlief, war das Kind schutzlos und, vor allem, kraftlos. Es glaubte, auch nicht mehr Kräfte zu haben als der Vater, und die Kräfte reichten nur zum Schlaf. Abschaffels Mutter saß zwar immer dabei, nähend, Zeitschriften lesend oder stopfend, und von Zeit zu Zeit lächelte die Mutter zu dem Kind hinüber, und das Lächeln forderte deutlich zur Aussöhnung mit dem schlafenden Vater auf. Aber es half nichts. Das Kind Abschaffel war schon bald beleidigt und verzog sich in die Küche, und in der Küche wurde aus dem Beleidigtsein ein Belustigtsein. Das Kind verhöhnte die Schwäche des Vaters; unfähig, die Wirklichkeit des Lebens des Vaters zu begreifen, gelang dem Kind der Spott.
    Während des Lesens vereinsamte Abschaffel rasch. Immer häufiger legte er Pausen ein und schaute jetzt länger aus dem Fenster. Er legte das Buch mit der Titelseite nach unten neben sich und betrachtete in Groß-Gerau-Dornberg, wo der Zug hielt, einen alleinstehenden Güterwaggon auf dem Nebengleis. Einige Gastarbeiter stiegen ein und aus. Gleich hinter dem Dorf erstreckten sich nasse Felder mit großen braunen Regenwasserpfützen darauf. Als der Zug wieder in Bewegung gekommen war, fuhr er an ein paar kleinen schmuddeligen Fabriken vorbei, die entlang der Gleise aufgereiht waren. An die Steinbauten der Kleinfabriken waren zum Teil Holzbaracken angegliedert, davor umgefallene und aufrecht stehende Eisenfässer voller Vögel, die aufflogen, wenn der Zug herannahte. Neben einem anderen Kleinbahnhof, in Goddelau-Erfelden, rosteten hohe Fahrradständer, wie es sie heute nicht mehr oft gab. Die Fahrräder mußten auf Fahrschienen vorn in die Höhe gedrückt werden und standen dann über Kreuz unter einem breiten Wellblechdach. In Groß-Rohrheim hielt der Zug nicht, dafür wieder in Bürstadt und Lampertheim. Abschaffel sah auf die

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