Abschaffel
Unruhe. Er beeilte sich, all diese Beobachtungen zu werten, und eben das konnte er nicht. So taumelte er zwischen einer immer größer werdenden Anzahl von Fragen umher; die blödeste dieser Fragen lautete, ob er ganz einfach ein Mensch sei, der gern etwas riecht, und ob es sich um Schuhcreme oder um Scheidenflora handelt, sei ihm eigentlich gleichgültig; die intelligenteste Frage war, und die beunruhigte ihn allerdings unmäßig, ob er, wenn er einen Finger in eine Vagina hielt und ihm lange hinterher der Geruch noch gefiel, damit eigentlich immer noch seinen Vater beeindrucken wollte, weil er einen unmittelbaren Anschluß an das Schuhputzereignis suchte, das seinen Vater, wie er sich gut erinnerte, doch so glücklich gemacht hatte.
Abschaffel konnte diesen Komplex nicht weiter auseinanderlegen, weil er von der Mutter aufgeschreckt wurde, die eben den Kaffee und einen kleinen Kuchen hereintrug. Sie setzte sich an den Tisch und schenkte dem Vater und dem Sohn, dem Sohn zuerst, Kaffee in die Tassen. Der Vater sagte, er mache seine Hemden gar nicht mehr schmutzig. Durch den Schlaganfall war sein Hals dünn und faltig geworden; er berührte den Hemdenkragen nicht mehr rundum. Und Abschaffel war erstaunt, wie der Vater glauben konnte, nur deshalb, weil er mit dem Hals den Kragen nicht mehr überall berührte, werde gleich sein ganzes Hemd nicht mehr schmutzig. Ich ziehe ein frisches Hemd an drei hintereinander folgenden Sonntagen an, sagte der Vater, und wenn das Hemd dann immer noch nicht schmutzig ist, ziehe ich es auch werktags an. Abschaffel kam sich zu schweigsam vor; er gefiel sich nicht. Er hatte noch fast nichts von sich erzählt, sondern stürzte sich immer gleich über das, was der Vater sagte. Jetzt dachte er darüber nach, was der Vater über seine Hemden gesagt hatte. Der Vater war einfach dazu übergegangen, auch seinen Schlaganfall als nützlich für seine Reinlichkeit und Sparsamkeit auszudeuten, ohne daß er es merkte. Weil er einen dünnen Hals bekommen hatte, beschmutzte er nicht mehr so rasch seinen Hemdenkragen, und weil seine Kragen länger sauber blieben, brauchte der Vater seine Hemden seltener zu wechseln. Infolgedessen war ein Schlaganfall etwas Gutes für die Reinlichkeit und die Sparsamkeit zugleich. Als sich Abschaffel dies klargemacht hatte, wollte er auf der Stelle in ein Weinen ausbrechen, wie es seine Eltern noch nie gehört hätten. Der Vater war entschlossen, sparsam und reinlich in den Tod zu gehen, und jede Krankheit war ihm dazu willkommen. Natürlich weinte Abschaffel nicht. Er seufzte. Ja, ja, so ist das, sagte der Vater.
Die Mutter saß dabei und achtete darauf, daß Abschaffel immer eine gefüllte Tasse hatte. Er hatte schon ein Stück Kuchen gegessen, und die Mutter forderte ihn auf, ein zweites Stück auf den Teller zu nehmen. Später vielleicht, danke, sagte Abschaffel. Plötzlich fiel Abschaffel auf, daß überhaupt nicht von ihr gesprochen wurde, nicht ein einziges Mal war sie bisher Thema gewesen, und Abschaffel spürte ihre lebenslängliche Benachteiligung, die sich sogar noch darin ausdrückte, daß der Vater der erste von beiden war, über dessen Todeskrankheit beide gemeinsam sprechen mußten. Er kam auf die kindische Idee, die sich zu einer ebenso kindischen Lust ausweitete, diese Ungerechtigkeit ausgleichen zu wollen. Er wollte ihr etwas Einmaliges anbieten, etwas, das für sie lustvoll und für den Vater, da er nicht mehr daran teilnehmen konnte, schmerzlich sein mußte, etwas, das den Tod des Vaters miteinschloß und ihn sogar voraussetzte. Tatsächlich hatte er auch eine Idee, wie er der Mutter Freude und dem Vater Schmerz bereiten konnte. Er hatte Lust, hier im Wohnzimmer zu sagen: Wenn der Vater tot ist, reise ich mit dir drei Wochen nach Italien. Natürlich drang von allem, was er dachte und wünschte, nichts nach außen. Im Gegenteil, er machte ein freundliches Gesicht. Die Mutter war dafür dankbar und lachte ihn an. Wenn die Mutter Geburtstag hatte oder Weihnachten kam, wenn sie also beschenkt werden sollte, erhielt sie eine Vase, ein Paar Strümpfe, eine Schachtel Pralinen, eine Sammeltasse, eine Flasche 4711 oder ein Stück Seife, dazu einen Topf mit rotvioletten Alpenveilchen, der in grünem oder blauem Kreppapier eingewickelt war. Oft erhielt sie auch von Abschaffel, als er ein Kind war, unverhohlen Haushaltsgegenstände, ein Paar Topflappen zum Beispiel, eine Pfanne, einen Topfuntersetzer. Es war unklar, ob ihr jemals aufgefallen war, daß diese
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