Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
Vom Netzwerk:
schon nicht mehr richtig als Kleidungsstücke, dazu traten sie zuwenig in Erscheinung. Bei den Hosen konnte er strenggenommen nur zwischen zweien wählen; er besaß zwar noch eine dritte Hose, die drückte und zwickte ihn aber, und er zog sie nicht gern an. Er überlegte, daß er, und dies galt auch von den Hemden und seiner Unterwäsche, zwei Sorten von Kleidungsstücken hatte, solche, die er gern anzog und die ihm guttaten, und andere, die ihm zu eng, zu weit, zu bunt oder sonstwie unpassend erschienen und die er trotzdem nicht wegwarf. Er zog auch die Unpassenden immer wieder an und ließ sich auf vertrackte Weise von ihnen quälen. Dies wurde ihm in diesem Augenblick so klar, daß er eines der Hemden, das ihm noch nie gefallen hatte, nahm und es wegwarf, obwohl es eben frisch gewaschen war. Und er war dankbar, daß ihm in den Wäldern der Unklarheit plötzlich ein winziges Detail klar und hell geworden war, aber gleich darauf, als er das frisch gestärkte Hemd, nur mühsam geknickt, im Mülleimer sah, wurde ein Teil seiner inneren Organe erschreckt. Es war ein Schreck, der ihn tief mit seinen Eltern und seiner Erziehung verband, weil es in dieser Erziehung verboten war, etwas wegzuwerfen, das noch nicht ganz und gar zuschanden geworden war. Wirklich glaubte Abschaffel, wieder ein Stück seiner Kühnheit zurücknehmen zu müssen und das Hemd wieder herauszuholen. Er erinnerte sich, daß sein Vater während seines ganzen Lebens, das nun im siebzigsten Jahr angekommen war, insgesamt drei Wintermäntel angeschafft hatte und daß es ihn Wochen der Übelkeit und des Verdrusses gekostet hatte, um zweimal, verteilt auf rund vierzig Jahre, einen schadhaft gewordenen Wintermantel wegzuwerfen. Diese Art von Mangelleben hielt der Vater für DAS LEBEN überhaupt. Abschaffel fühlte nichts Gutes, als ihm diese Details einfielen. Einerseits sympathisierte er zunehmend mit der Auffassung des Vaters, weil sein eigenes, Abschaffels, Leben sich immer mehr, ähnlich wie das des Vaters, durch den Mangel definierte; andererseits durchschaute er die Kleinlichkeit, die dieser Auffassung zugrunde lag, ja ihr überhaupt erst die Optik frei machte, und kleinlich wollte Abschaffel nicht sein. Lebten kleinliche Menschen in einer großzügigen Welt, oder mußten die Menschen kleinlich sein, weil die Kleinlichkeit der Welt ihnen keine andere Wahl ließ? Abschaffel ärgerte sich, weil er wegen eines weggeworfenen Hemdes, wegen einer lächerlichen Regelverletzung, in solche Zustände und Betrachtungen geraten war; er hob noch einmal den Deckel des Mülleimers hoch, zog das Hemd etwas heraus und verdreckte es mit dem übrigen Inhalt des Mülleimers. Mit der bloßen Hand holte er eine Ölsardinenbüchse aus der Tiefe des Mülleimers und kippte einige Tropfen Öl über das Hemd, darüber leerte er einen Aschenbecher aus. Dann ging er in das Bad, kämmte sich rasch und wütend, entfernte die Haare aus dem Kamm und ließ sie in den Eimer fallen auf das Hemd, und in einer kindischen Trotzwallung spuckte er dreimal über alles darüber.
    In den zwei Stunden, die zu seiner Abfahrt fehlten, beruhigte er sich wieder. Er lief lange vor der Abfahrt im Bahnhofsgebäude umher und ging in eine Buchhandlung. Er kaufte sämtliche Erzählungen von Franz Kafka in einer billigen Taschenbuchausgabe (Fischer Bücherei Nr. 1078); einige dieser Erzählungen hatte er früher schon einmal gelesen, aber es war schon lange her, und er konnte sich kaum erinnern. Es war immer noch Zeit, und Abschaffel stellte sich mit seinem Buch an die Theke einer Imbißstube, und er hörte, wie ein Mann ein Eibrötchen verlangte. Abschaffel verstand aber, bevor er das Wort Eibrötchen richtig hörte, aus Versehen das Wort Eilbrötchen. Das falsch verstandene Wort gefiel ihm sehr, und er stellte sich sofort vor, wie ein Eilbrötchen aussehen müßte. Wahrscheinlich war es um die Hälfte kleiner als ein normales Brötchen, außerdem ganz weich, so daß ein ausgewachsener Mann ein Eilbrötchen mit einem einzigen Biß verschwinden lassen konnte. Noch später, als er schon im fahrenden Zug saß, belustigte ihn diese Vorstellung, und er baute sie weiter aus, stellte sich vor, wie ein Eilbrot beschaffen sein mußte, auch Eilwohnungen und Eilbetten mußten interessant sein. Warum sollte es das alles nicht bald geben? Einen Eilzug zum Beispiel gab es schon, Abschaffel saß selbst in einem und fuhr zu seinen Eltern. Er hatte mit Absicht keinen D-Zug gewählt, weil er sich vorgestellt hatte, wenn die

Weitere Kostenlose Bücher