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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Rückseiten von vielen kleinen Häuschen, auf Balkone, Garagen und Gärten mit zusammengeklappten Liegestühlen und mit Plastik überzogenen Campingtischen. Zwischen Lampertheim und Mannheim-Waldhof sah Abschaffel nahe an den Gleisen das eingezäunte Dressierfeld eines Hundezüchtervereins; mehr und mehr Industrieanlagen bestimmten jetzt das Bild, je näher Mannheim rückte, die großen Backsteinbauten von BBC links und rechts, hier und da der schwefelgelbe Rauch mittelgroßer Chemiefabriken. In Mannheim, wo Abschaffels Eltern wohnten, notierte er sich die Rückfahrtzeiten einiger Züge. Am frühen Abend spätestens würde er wieder fahren. Es fiel ihm ein, daß er heute noch zu einem Mädchen gehen wollte, und er hatte die Vorstellung, auch dies in Mannheim zu tun. Der Einfall euphorisierte ihn etwas, weil er glaubte, dadurch auf eine besondere Weise mit der Stadt seiner Kindheit, die schon die Stadt der Kindheit seiner Eltern gewesen war, verbunden zu sein. Er hatte keine Möglichkeit, die Güte dieses Einfalls zu prüfen. Ursprünglich hatte er zu einer mindestens vierzig Jahre alten Frau gehen wollen, aber je länger er an der Abfahrtstafel der Züge im Hauptbahnhof stand und sich die Zeiten auf einen Zettel schrieb, desto mehr wandelte sich diese Vorstellung um; er wollte jetzt zu einem ganz jungen Mädchen gehen, weil er sich selbst alt fühlen wollte. Abschaffel war dreißig, und das Mädchen durfte nicht älter als zwanzig sein.
    So wollte er es halten, und als er in die Straßenbahn stieg, gefiel er sich bereits darin, alt zu sein und alles nicht mehr richtig zu können. Übertrieben kniff er hinter den Brillengläsern die Augen zusammen und zog den Kopf hinter der Fensterscheibe tief nach unten, wie es ältere Menschen tun, wenn sie sich anstrengen müssen und es nicht mehr wollen. Er wäre nicht böse gewesen, wenn sich ihm jemand genähert und durch bloße Anwesenheit zum Ausdruck gebracht hätte, ihm, Abschaffel, könne im Notfall jederzeit geholfen werden. Natürlich näherte sich ihm kein Mensch, im Gegenteil, es gab in der Straßenbahn einige Personen, die sich durch seinen Anblick veranlaßt sahen, in den hinteren Teil des Wagens weiterzugehen, weil sie vielleicht fürchteten, Abschaffel könne seine Größe und Schwere als Vorteil ausnutzen. Für ihn war es genau umgekehrt; er glaubte, seine Erscheinung werde ihm sogleich Nachteile einbringen. Die sonderbare Angst, es werde ihm etwas geschehen, blieb bei ihm, auch als die Straßenbahn schon einige Stationen gefahren und nichts geschehen war, im Gegenteil es in der Straßenbahn immer ruhiger wurde, fast sanft. Weil ihm nichts zustieß in der Straßenbahn, glaubte er, das eigentliche Unglück geschehe draußen, auf der Straße. Aber je weiter die Straßenbahn fuhr, desto stiller wurde es draußen. Die Häuser wurden niedriger, die Straßen enger, die Geschäfte kleiner, die Frauen unansehnlicher. Alles ließ sich anschauen. Auch die Stille war ihm nicht recht, und er traktierte sie sofort mit Vorwürfen. Hier geschieht überhaupt nichts! So lautete der neue Vorwurf. Er verließ die Straßenbahn und blieb eine Welle an der Haltestelle stehen, um sich die Autos und die Leute zu betrachten, und während der Betrachtung kamen immer mehr Anlässe für eine Beschwerde zusammen: Hier geschieht nichts! Dies wunderte ihn nicht, denn er war nun in die Nähe der Wohnung seiner Eltern gekommen, und der Dauervorwurf, den er ihnen seit zwanzig Jahren im stillen machte, hatte die gleiche Richtung: Es ist mit euch nie etwas geschehen, und so konnte auch mit mir nie etwas geschehen. Gleich fühlte er sich wohler. Plötzlich stimmten seine Person, seine Klagen und die Anlaufadresse seiner Vorwürfe wieder überein, und sie ergaben zusammen einen Klang, den Klageklang einer Person. Bis zur Wohnung der Eltern legte er einen kurzen Fußweg zurück, und alles, was er sah, wurde zum Anlaß für eine Beschwerde. Diese Tankstelle, diese lächerliche kleine Tankstelle! Dieser poplige kleine Friseurladen, und die Bäckerei erst, Gott steh uns allen bei, hier konnten nur Schwäche und Angst groß werden, und wer sich freiwillig hier aufhielt, mußte nicht recht bei Sinnen sein.
    Seine Eltern waren zwei alte Leute geworden, die zusammen im Türrahmen standen und lachend ihren Sohn begrüßten. Sie gingen um ihn herum und wollten ihm in allem, was er tat, behilflich sein. Sie gingen vor ihm her ins Wohnzimmer und wiesen zugleich auf mehrere Stühle, auf die er sich setzen könne.

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