Abschaffel
Es war ihm nicht recht, daß er sofort begann, sie zu beobachten. Es war ihm schon aufgefallen, daß sie fast alles, was sie zu tun vorhatten, gemeinsam ausführten. Es war nicht möglich, daß sie oder er länger abwesend war, und sei es nur in der Küche oder im Schlafzimmer. Bald zog es den anderen hinterher, sie standen auf und suchten einander, und häufig kamen sie zusammen wieder zur Tür herein. Es ärgerte Abschaffel, daß sich alte Leute so gut beobachten ließen, ja, daß er sie mit großer Panik beobachtete, beunruhigte ihn, und jede Kleinigkeit, die er an ihnen sah, kommentierte er für sich: Ja, ja, so ist das Alter, schau es dir an. Die Mutter hatte gleich angekündigt, daß sie Kaffee kochen werde, und sie war in der Küche verschwunden, um das Wasser aufzusetzen. Abschaffel saß am Wohnzimmertisch und begann zu rauchen. Der Vater besorgte ihm einen Aschenbecher aus der Küche und stellte ihn auf den Tisch. Die Mutter kam in das Zimmer und begann, Kaffeetassen und Kuchenteller aus dem Schrank zu holen und aufzustellen. Wieder griff der Vater den Verrichtungen der Mutter hinterher. Sie verteilte Tassen und Teller auf dem Tisch, und der Vater nahm sie einzeln in die Hand und stellte sie etwas anders hin. Dieses Verhalten machte Abschaffel rasch wütend, und er mußte sich anstrengen, seine Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu lenken. Seine Wut war hier nicht mehr zu Hause, und er brauchte sie hier nicht mehr darzustellen. Er begann ein Gespräch über die Gesundheit des Vaters, und tatsächlich ging der Vater bereitwillig darauf ein. Schlimmer darf es nicht werden, sagte er. Der Vater hatte vor einem Jahr einen Schlaganfall erlitten; er konnte den linken Arm nicht mehr nach seinem Willen bewegen. Ich kann meine Schuhe nicht mehr putzen! sagte der Vater.
Und Abschaffel begriff, daß es für ihn schlimm war, seine Schuhe nicht mehr selbst putzen zu können. Aus lebenslanger Furcht war der Vater sowohl sparsam als auch reinlich geworden. Wer ihm, dem Vater, gefallen wollte, mußte seine Ängste nachahmen, und Abschaffel hatte es schnell gelernt, als er Kind dieses Vaters sein mußte, und der dreißigjährige Abschaffel erinnerte sich, wie er vor mehr als zwanzig Jahren an Sonntagmorgenden seine Schuhe putzte, um ihn, den Vater, für sich einzunehmen. Abschaffel hatte sich als Kind in die Küche gestellt, niemals in die Nähe des Tisches, immer dicht bei den Öfen und Herden und Waschbecken. Die linke Hand schlüpfte in den zu putzenden Schuh, und mit einem über den gestreckten Zeigefinger der rechten Hand gezogenen Lappen trug Abschaffel weiße Schuhcreme auf, die er mit dem umtuchten Finger aus der flachen Cremedose herausbohrte. Und wirklich war der Vater von Zeit zu Zeit in der Küche erschienen und hatte mit Genugtuung auf seinen Sohn, der des Vaters Reinlichkeit zu übernehmen scheinbar bereit war, gesehen. Der Vater gab auch Ratschläge zum Schuheputzen, zum Beispiel machte er Abschaffel darauf aufmerksam, wie wichtig es sei, mit dem Lappen gerade an jene Stellen an den Schuhen zu kommen, wo sich das Leder zusammenzog oder wo es in Falten genäht war. Und das Kind Abschaffel folgte; es erfaßte mit dem Lappen die vom Vater als schwierig bezeichneten Stellen der Schuhe, der Vater sah es und wurde ruhig. Sogar daran erinnerte sich Abschaffel, wie die hart gewordene Creme (die Dose lag an der Sonne, der Inhalt war ausgetrocknet: rätselhafterweise ging der Vater nicht gegen diese Zerstörung vor) meistens in mehrere Teile zerbrochen in der Dose lag und er darauf achten mußte, daß der Teil, von dem er einen Abstrich machen wollte, dabei nicht wegrutschte. Und es blieb vom Schuheputzen ein stinkender Zeigefinger für den Rest des Tages zurück; die Creme war durch den Stoff des Lappens hindurch so tief in die Haut und den Fingernagelsaum eingedrungen, daß auch mehrmaliges Händewaschen den Geruch nicht tilgte. Allerdings bekam durch das mehrmalige Händewaschen die Genugtuung des Vaters über den Sohn in so überreichlichem Maße Nahrung, daß der Vater an manchen Sonntagmorgenden ganz locker und glücklich durch die Wohnung ging. Eben fiel Abschaffel ein, daß er damals im Laufe des Sonntags häufig seinen Finger unter die Nase hielt, um den Geruch der Schuhcreme zu riechen. Es war dieselbe Bewegung, die er heute ausführte, wenn er sich den Finger unter die Nase hielt, nachdem er ihn lange in die Vagina einer Frau gehalten hatte. Über diese überraschende Übereinstimmung geriet Abschaffel in
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