Abschaffel
herzugeben hatte. Er bestellte Spaghetti Napoli und ein Glas Rotwein. Der Italiener rief die Bestellung durch eine Luke in einen Nebenraum, danach war wieder Stille. Nur das Geräusch eines winzigen Radios war zu hören, das offenbar schon stundenlang eingeschaltet war. Es war ganz leise geworden, es gab nur noch ein ziehendes, schleifendes Geräusch von sich. Wenn die Lautstärke etwas anschwoll, hörte Abschaffel einen halben Satz in einer fremden Sprache. An den Wänden entlang waren Eßborde angeschraubt und darauf, in den Ecken, Drahtgestelle mit Papierservietten und Trinkröhrchen. In der Mitte zwei Stehtische. An der Wand knackte eine elektrische Uhr, deren Zeiger gerade über dem Namenszug COCA-COLA standen. In der Luke erschien eine Hand mit Teller, das waren Abschaffels Spaghetti. Der Italiener nahm einen Pappbecher und schenkte ihm Rotwein ein. Abschaffel trug seine Bestellung zu den Eßborden und aß. Alles in diesem Lokal war ausdruckslos, und Abschaffel gefiel es hier. Er aß, und er war sicher, daß auch von ihm kein Ausdruck verlangt werden konnte.
SO GEHT ES NICHT WEITER! SO KANN ES NICHT WEITERGEHEN! ES MUSS ALLES GANZ ANDERS WERDEN! Mit solchen Sätzen, die er unaufhörlich vor sich hin murmelte, ging Abschaffel einige Tage später nach Hause. ICH KANN MICH NICHT JEDEN TAG IN DER STADT HERUMTREIBEN! ICH MUSS SINNVOLLER LEBEN! Das waren die Sätze, die er dachte, als er seine Wohnungstür öffnete. Er war gleich nach Feierabend nach Hause gegangen. Er hatte den Drang, sofort mit einem echteren Leben anzufangen, und er war schon fast glücklich, als er in der Küche den übervollen Mülleimer sah. Dieser Anblick war eine gute Gelegenheit, mit einem besseren Leben anzufangen, und er beschloß sofort, den Abfall hinunterzutragen. Wirklich war er wenige Minuten später mit dem Abfall unterwegs nach unten. Er hatte die Hausschuhe angezogen; fast wie ein Hausvater stieg er die Treppen hinab, in der linken Hand den Abfall tragend, in der rechten den Schlüsselbund. Als er unten neben den drei Mülltonnen stand, hob er von jeder einzelnen Mülltonne den Deckel und überlegte, in welche er seinen Abfall hineinwerfen sollte. Er merkte zuerst gar nicht, daß er seinen Abfall in die Mülltonne werfen wollte, in der noch am meisten Platz war. Er wollte nicht, daß sein Abfall in einer Mülltonne ganz obenauf lag, und erst in diesem Augenblick fiel ihm auf, wie sehr er wieder dabei war, mit der Intensität am falschen Ende anzufangen. Sofort geriet er in eine helle Wut. Er warf den Abfall schließlich in den mittleren Mülleimer und ging rasch und zerknirscht die Treppen hoch. MAN MUSS ES WAHNSINNIG INTERESSANT FINDEN, DASS ALLES SO IST, WIE ES IST, UND DAS KANN ICH NICHT , dachte er wütend. Eben noch wollte er ein sinnvolleres Leben führen, und jetzt war sein Kopf schon wieder voll mit Knoten und Knüppeln. Diese ruinöse Vernichtung von Vorsätzen wegen nichts und durch nichts! Er blickte um sich, und alles war weg. Ratlos saß er in seinem Zimmer. Und wirklich kam er auf den Gedanken, er müßte sich vielleicht ein Hobby zulegen. Hatte er nicht schon immer fotografieren wollen? Jawohl! Fast ging es ihm schon wieder etwas besser, da beschimpfte er sich wegen dieses lächerlichen Einfalls. War es denn schon so schlimm um ihn bestellt, daß er ins Hobbyalter hinüberwechselte? Wollte er seine Trostlosigkeit bebildern? Was im Ernst wollte er denn fotografieren? Er lief im Zimmer umher und sah aus dem Fenster hinaus und setzte sich und stand wieder auf und dachte: Jeden, der jetzt bei mir klingelt und in die Wohnung will, bewirte ich bis ans Ende meines Lebens. Ich schnalle ihn auf dem Sessel fest und lasse ihn nicht mehr weg. Natürlich saß Abschaffel nur in seinem Zimmer auf einem Stuhl. Er nahm ein Geräusch wahr, es mußte von oben kommen. Er war, da er wirklich allein war, sofort bereit, dieses Geräusch zu überschätzen. War einmal etwas in seine Wahrnehmung eingedrungen, beschäftigte er sich gleich übertrieben damit. Immer wieder gab es dieses Geräusch in der Wohnung über ihm. Zweimal, manchmal sogar dreimal am frühen Abend fiel oben ein Gegenstand zu Boden, und es hörte sich an, als sei es eine kleine Kugel, die auf einen Steinboden aufschlägt und dann wegrollt. Aber wer ließ eine Kugel, wenn es eine Kugel war, auf den Boden fallen? Es gab keine Kinder in der oberen Wohnung. War es ein Mann, war es eine Frau, die die Kugel fallen ließ, und fiel sie überhaupt, oder wurde sie geworfen? Und
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