Abschaffel
seiner Gewerkschaft vorgelegt, aber der Antrag wurde abgelehnt. Die Gewerkschaft hatte auch ihren Stolz; sie wollte keine über fünfzigjährigen Streitfälle mehr aufnehmen. Gersthoff war über Nacht zu dem armen Schwein geworden, das er schon immer gewesen war. Er würde wochenlang im Krankenhaus liegen müssen, und wenn es Mörst und das Gesetz nicht gegeben hätte, dann müßte er die Schicksalsmächte darum bitten, das Maß vollzumachen und ihm den Tod zu bringen, und zwar einen raschen, damit der Tod eine nicht gar so hohe Krankenhausrechnung hinterließ. Mörst, der Betriebsratsvorsitzende, hoffte, dieser Fall würde auf andere Angestellte, die ebenfalls nicht gewerkschaftlich organisiert waren, wie auch Abschaffel, beispielgebend wirken. Immer wieder blickte er warnend und vorsorglich im Büro umher. Tatsächlich waren nur wenige Angestellte in der Gewerkschaft. Jeder Angestellte war ein privates Monstrum. Allein die Vielzahl ihrer persönlichen Wehwehchen verleitete die meisten dazu, sich schon für Persönlichkeiten zu halten, die mit anderen Menschen nichts gemeinsam hatten. So war es auch mit Abschaffel. Er hörte sich in diesen Tagen interessiert Mörsts Reden an und stimmte ihm in allem zu. Denken Sie nur, hatte Mörst gesagt, wenn Gersthoff in der Gewerkschaft gewesen wäre, wie relativ einfach die Sache wäre. Die Gewerkschaft würde seinen Fall sofort aufgreifen und für ihn vor das Arbeitsgericht gehen. So aber geschieht überhaupt nichts. Gersthoff muß privat klagen, er muß einen Rechtsanwalt bezahlen, und das alles dauert monatelang, denn die Arbeitsgerichte sind überlastet, und immer muß Gersthoff zahlen, dieser Idiot, hatte Mörst gesagt, und Abschaffel hatte genickt. Und Abschaffel, auf dem Bett liegend, gestand sich ein, daß er nur ein anderer Gersthoff war. Er war am Anfang des Weges, den Gersthoff mit einem Herzinfarkt soeben nahezu beendet hatte. Aber das Eingeständnis führte zu nichts. Es war für ihn nur wieder eine schöne Stimmung, die er sofort zu seiner Privatsache machte. Und er ging gleich dazu über, sein Privatleben dem Privatleben Mörsts gegenüberzustellen. Ein Hundezüchter, hah! Die beiden Leben waren unvereinbar, und es war Abschaffel nicht möglich, davon abzusehen.
Natürlich hatte ihn die Beschäftigung mit diesen Dingen wehleidig gemacht. Es blieb nichts anderes übrig als seine Schwäche. Nervös stand er auf und zog sich die Schuhe an, aber warum zog er sich die Schuhe an? Er zog die Schuhe wieder aus und öffnete das Fenster. Er überlegte, vielleicht sollte er ins Kino gehen oder erst später? Einmal, im Sommer, war er in der 16-Uhr-Vorstellung gewesen und war hinterher enttäuscht, weil es, als er das Kino verließ, auf der Straße noch immer hell und Tag war. Dadurch war alles auseinandergefallen, das Kino, der Tag und Abschaffel selber, und er hatte es nicht mehr zusammensetzen können. Er schaltete das Fernsehgerät ein. Es wurde ein Tierfilm gezeigt, und Abschaffel setzte sich auf den Boden und sah hin. Es amüsierte ihn, eine Menge von Igeln zu sehen, dazu Eichhörnchen, Gartenschläfer, Bilche, Wanderratten, Siebenschläfer, Haselmäuse und Eulen. Der Film zeigte das Leben dieser Tiere, aber es war wie eine Unterhaltung für Menschen. Der Siebenschläfer fraß eine Eidechse, und als sich der Siebenschläfer das Maul ableckte, wurde er von einer herabstürzenden Eule angefallen und in Stücke gefetzt und aufgefressen. Das Chaos beruhigte Abschaffel, und er geriet in Begeisterung über die Klarheit der Vorgänge. Da entschloß er sich, doch vorzeitig in die Stadt zu gehen und sich zu ermüden, damit das Sitzen im Kino behaglicher wurde. Auf der Straße hatte er Lust, in die Ereignisse hineinzupöbeln. Den massenhaft vorbeifahrenden Autos rief er zu: FAHRT WEITER, IHR SCHWEINE , nur Abschaffel hörte es, aber es machte ihn zufrieden. Er fuhr mit einer Rolltreppe eine U-Bahn-Station hinunter und setzte sich auf einen Platz in einer langen Reihe von Sitzen und wartete. Er sah, wie an einem Ende der langen Sitzreihe, in deren Mitte er allein saß, zwei Gastarbeiterinnen anfingen, mit Eimer und Lappen die Sitze zu reinigen. Sitz für Sitz arbeiteten sie sich an Abschaffel heran und redeten dabei, und Abschaffel verstand kein Wort. Ihre Sätze hallten in dem weiten Schacht, und Abschaffel wunderte sich, daß sich die beiden Frauen nicht schämten, weil ihr Gerede so weit weggetragen wurde von dem Hall. Eine Bahn war bereits gekommen; Abschaffel hatte sie ohne
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