Abschaffel
fiel sie für sich allein, oder wurde sie nach jemandem geworfen? Er ging in der Wohnung umher, um seinen Fragen aus dem Weg zu gehen oder um sie einfach zu verlieren, indem ihm irgend etwas anderes auffiel. Gleich lief er einer anderen Übertriebenheit in den Weg. Vor dem Spiegel kämmte er sich flüchtig die Haare, und als er fertig war, hatten sich einige Haare vom Kopf gelöst; sie hingen im Kamm. Er griff nach ihnen, indem er mit einer Hand eine Faust um den Kamm bildete und die geschlossene Faust langsam zurückzog. Er brachte die Haare in der Faust zum Mülleimer, aber auf dem Weg zur Küche läutete das Telefon. Er ging zum Telefon zurück, telefonierte lange mit einer Freundin, die er früher einmal gekannt hatte; es fiel ihm nicht ein, daß er eben noch hatte dankbar sein wollen für jedes menschliche Ereignis, statt dessen langweilte er sich beim Telefonieren, er lehnte im Türrahmen, während er sprach, ein Bein etwas angehoben, als müßte er ganz rasch einen Raum verlassen. Das Gespräch war zu Ende, er legte den Hörer auf, als hätte er etwas ganz Schwieriges noch einmal mit viel Glück überstanden, er lief in der Wohnung umher und suchte Anschluß an eine andere Tätigkeit, bis ihm auffiel, daß er in seiner Faust immer noch einige Haare eingeschlossen hielt. Er hatte seine Faust so fest geschlossen, als sei ein kleines Tier darin; endlich ging er zum Mülleimer und öffnete langsam seine Faust und wunderte sich, daß es wirklich nur einige Haare waren, die in den Mülleimer segelten.
Abschaffel litt darunter, daß die Ereignisse so eindeutige Anfänge und Enden hatten, die er jeweils bemerkte; dadurch entstand für ihn immer die Frage, was jetzt geschehen solle. Er sah eine geschwächte Wespe, die in seine Wohnung geflogen war. Das Tier summte eine Fensterscheibe auf und ab und legte Pausen ein, die es unten in den Ecken des Fensterrahmens zubrachte. Abschaffel holte sich im Bad ein schweres, ungeöffnetes Waschmittelpaket und erdrückte damit die Wespe an der Scheibe. Als sie zerquetscht und tot auf die Fensterbank fiel, sah er sie lange an, vor allem den Saft sah er an, der ihr aus dem Hinterleib gequollen war. Vorn die Fühler bewegten sich langsam hin und her, und Abschaffel drückte noch einmal das Waschmittelpaket auf sie drauf. Jetzt war sie nicht nur endgültig und völlig tot, sie war auch plattgedrückt, und Abschaffel wunderte sich, daß er auch vor einer toten Wespe immer noch Angst hatte; er faßte sie an den Flügeln und ließ sie in den Mülleimer fallen.
Er ging in das Zimmer und legte sich auf das Bett. Der Angestellte Gersthoff fiel ihm ein. Er lag im Krankenhaus mit Schlaganfall und Herzinfarkt, das wird nicht mehr. Ajax, der weiße Wirbelwind, hatte seine Chance gesehen; Gersthoff war noch nicht drei Tage im Krankenhaus, da war er entlassen. Aber Ajax hatte einen Fehler gemacht; er hatte versäumt, sich über die Kündigung mit dem Betriebsrat zu verständigen. Die Kündigung war ohne Wissen des Betriebsrats erfolgt, und das war ein Verstoß gegen § 102 des Betriebsverfassungsgesetzes. Herr Mörst, der Betriebsratsvorsitzende, ein widerlicher, ewig stinkender Hundezüchter, war zu einem der Referenten von Ajax gegangen und hatte die Kündigung angefochten; mit Erfolg, sie wurde zurückgenommen. Das Gesetz war ein gutes Gesetz. Natürlich hatte Ajax gewußt, daß er den Betriebsrat nicht übergehen durfte, er hatte es aber dennoch riskiert, weil er geglaubt hatte, Herr Mörst, dieser lächerliche leere Fleck, würde sich niemals trauen, einer seiner Entscheidungen zu widersprechen. Und eine wirkliche Beratung der Kündigung mit Herrn Mörst, wie es das Gesetz verlangte, hätte Ajax in der Ehre gekränkt. So hatte es Ajax darauf ankommen lassen, daß das Gesetz, auch noch in Form von Herrn Mörst, gegen ihn war. So etwas war Ajax noch nie geschehen, es war ein Altersschock, der ihm vielleicht das Hirn zerstörte. Er lief wirr im Büro umher, alle seine Angestellten waren ihm plötzlich unheimlich geworden; er beobachtete sie, besonders Herrn Mörst beobachtete er, dieser arbeitete aber brav wie immer, es war nichts an ihm zu finden. Gersthoff wollte, als er auf dem Krankenbett von Mörst hörte, was geschehen war, sofort in die Gewerkschaft eintreten. Seit zwanzig Jahren hatte er sich gegen die Gewerkschaft gesträubt. Nun, zwar immer noch ohne Überzeugung, aber mit bleicher und schlotternder Dankbarkeit, wollte er beitreten. Mörst hatte Gersthoffs Aufnahmeantrag dem Vorstand
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