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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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sich weiterfahren lassen, weil er erleben wollte, wie die beiden Gastarbeiterinnen auf ihn reagierten, wenn sie putzend und scheuernd und redend an den Sitz, auf dem er saß, herangekommen waren. Denn er war entschlossen, seinen Sitz nicht zur Reinigung freizugeben. Einen Grund dafür fand er nicht, er wollte nur nicht weggehen. Deshalb kam er in eine unsinnig angespannte Situation. Die beiden Frauen waren bis auf zwei Sitze an ihn herangerückt, und er hätte jetzt aufstehen müssen. Die Frauen baten ihn nicht aufzustehen. Sie redeten miteinander und gingen um ihn herum und setzten ihre Arbeit an dem Sitz fort, mit dem sich die Reihe auf Abschaffels anderer Seite fortsetzte. Abschaffel war dabei, für die beiden Frauen Sympathie zu empfinden, weil sie ihn behandelt hatten wie ein sinnloses Objekt in einer allgemein sinnlosen Umwelt. Es war klug von ihnen gewesen, sich nicht von ihm herausfordern zu lassen. Jetzt wollte er ihnen nachträglich erklären, daß er gar nicht so sei, wie er sich eben benommen hatte, daß er so ein Mensch ganz und gar nicht sei. Er blickte ihnen sehnsüchtig nach und überlegte, wie er ihnen das erklären konnte, und er bemerkte nicht, daß er seine Bedeutung für die beiden Frauen immer noch überschätzte. Es war ihnen gleichgültig gewesen, ob er sitzen blieb oder aufstand, und ebenso gleichgültig mußte ihnen sein, was er ihnen nachträglich erzählen wollte.
    Weil er diese Geschichte nicht mehr geradebiegen konnte, entzog er ihr immerhin das Gefühl eines kleinen Beleidigtseins. Von daher wuchs ihm inmitten seiner Scham ein Stolz in den Kopf, der den Vorfall bereits umwertete. Jetzt hatte er die Meinung, gar kein schlechter, sondern ein besonders intensiver Mensch zu sein, der sich auf riskante Selbsterfahrungen einließ. Es war erstaunlich, was sich alles zurechtdenken ließ. In der Stimmung des neuen Wieder-von-sich-Beeindruckt-seins ging er rasch zu Fuß zum Kino. Als er dort war, kam er immer noch zu früh. An der Kasse kaufte er sich eine Tüte mit Erdnüssen und etwas Schokolade; damit betrat er als erster den Zuschauerraum. Es war schön, im Kino als einziger zu kauen. Der tiefblaue Vorhang war unten und oben mit hellem Licht angestrahlt, und eine Klimaanlage bewegte ihn leicht hin und her. Aus zwei Lautsprechern links und rechts des Vorhangs drang eine weiche und eilige Musik, und es gefiel Abschaffel, daß er gleichzeitig mehreres tun und beobachten konnte. Er hörte der Musik zu, und es gefiel ihm zu wissen, daß die Musik gleich weggenommen werden konnte und ein Film zu laufen beginnen würde. Er aß Erdnüsse und Schokolade und beobachtete zugleich die kleine Kartenabreißerin an der Eingangstür; gleichzeitig hörte er wieder der Musik zu. Mehreres zugleich tun! Das gefiel ihm plötzlich. Abschaffel erinnerte sich an Schulausflüge, an denen er als stummer Schüler teilgenommen hatte, und es irritierte ihn, erst jetzt auf den Gedanken zu kommen, daß ihm diese Schulausflüge vielleicht gefallen haben könnten. Er erinnerte sich an Zugfahrten, und in den Abteilen sangen die Schüler. Zugfahren und gleichzeitig singen! Das Kino hatte sich rasch gefüllt, und Abschaffel versuchte, durch Beibehaltung eines finsteren Gesichts zu erreichen, daß sich niemand neben ihn setzte. Der Kinoraum war etwas dunkler als zuvor, aber gerade noch so hell, daß jeder Platz gut zu finden war. Abschaffel hatte die Schokolade aufgegessen, die Erdnüsse nicht ganz. Es verdunkelte sich das Kino vollständig, und alles, was nun vorgeführt wurde, Hauptfilm, Vorfilm, Wochenschau und Werbedias, hatte er vor einer Woche bereits gesehen. Er lehnte sich zurück und war froh, für zwei Stunden zu wissen, was geschehen würde.
     
    Dieser krumme stille Sonntag, wie er wieder hinter den Häusern hervorkam! Abschaffel, obwohl wach, lag im Bett und drehte am Radiogerät, das seitlich vom Bett stand. Es war einer von diesen zähen Sonntagen, die mit einer prächtigen Stille anfangen, die dann aber, wenn ringsum schon alles wartet, nichts mehr zum Menschenleben beitragen. Abschaffel hatte schon versucht, im Bett zu lesen, aber er hatte die Konzentration nicht beibehalten können. Nach drei Seiten hörte er auf. Er spielte an seinem Geschlecht, und es war absehbar, daß er bald onanierte. Er hatte erst gestern onaniert, und erst gestern hatte es ihm nicht gefallen, aber das machte nichts. Beiläufig stellte sich die Erinnerung an ein Mädchen ein, das er einmal gekannt hatte oder nicht gekannt hatte und

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