Abschaffel
mußten zwanzig Minuten kochen. Gleich erschien ihm diese Zeit zu lang. Er konnte es nicht ertragen, vor sich selber den Eindruck zu erwecken, sein Leben bestünde in diesen zwanzig Minuten lediglich aus dem Warten auf das Garwerden von Spaghettis. Er ließ das Badewasser einlaufen und dachte: Jetzt warte ich wenigstens auf zwei Dinge zugleich. Wenn die Kochzeit der Spaghettis vorüber sei, dachte er, sei auch die Badewanne voll; dann könnte er die Spaghetti in ein Sieb abschütten und trocknen lassen, und er könnte in dieser Zeit baden. Und nach dem Bad wollte er die Spaghettis in der Pfanne braten und essen. Er überlegte diese Folge von Ereignissen und bemerkte nicht, daß er die beiden Vorgänge, Baden und Kochen, derart ineinander verschränkt hatte, daß sie sich einander hetzten und unerfreulich wurden. Es gelang ihm an diesem Morgen wieder nicht, ruhig zu leben und ein Ding an das andere zu setzen.
Denn die Badewanne war rasch voll, und die Spaghettis hatten erst die Hälfte ihrer Zeit gekocht. Wenn er auf die Spaghettis wartete, lief er Gefahr, das Badewasser kalt werden zu lassen. Eilig überlegte er, ob er vielleicht in den zehn Minuten Kochzeit, die den Spaghettis zum Weichwerden fehlten, ganz rasch baden sollte, oder sollte er warten, bis die Spaghettis gar seien, dann einen Teil des bereits eingelaufenen, sicher nicht mehr heißen Badewassers ablaufen lassen und neues heißes Badewasser nachfüllen? Abschaffel entschied sich für die zweite Möglichkeit. Er stellte das Badewasser ab und wartete vor dem Gasherd, bis die Spaghettis gar waren, und schüttete sie ab. Als er etwas Badewasser ablaufen ließ und neues zugab, überlegte er schon, was er nach dem Baden und Essen tun konnte. Er zog sich aus, und es war ihm, als würde ihn das Baden eigentlich nur stören und von etwas anderem abhalten. Er sah gar nicht mehr ein, warum er baden sollte, aber da saß er schon in der Wanne und wusch sich unaufmerksam. Überraschend fiel ihm in der Badewanne seine Onanievorstellung vom schmutzigen Mädchen ein, und er wunderte sich, daß er sich nun dem wichtigsten Bestandteil dieser Vorstellung, der Säuberung, selber unterzog. Das konnte nur heißen, er brauchte das Bild vom schmutzigen Mädchen, damit er zur Schmutzvorstellung von sich selber kam. Niemand war schmutzig, im Gegenteil, alle waren sauber und schön, besonders die Mädchen und Frauen, nur sein Geschlecht und sein Samen war schmutzig, und deswegen badete er auch nun real in der Wanne nach dem Onanieren. O Gott, diese Scham im Wasser. Badete er immer nur, um den tiefen Schmutz seines Geschlechts zu tilgen? Und onanierte er, weil er seinen Samen, der sein Schmutz war, unter allen Umständen von sich weg haben wollte? Auch zweimal, damit wirklich keine Reste blieben? War er tief im Inneren davon überzeugt, daß er SCHMUTZ war? Für zwei Minuten war es gefährlich, daß er in der Badewanne saß. Die Scham strömte so mächtig in ihn ein und machte ihn so schwach, daß er gern ertrunken wäre. Weg mit dieser nicht aufhebbaren Verzweiflung und Nichtigkeit! War nicht immer alles umsonst, weil die Überzeugung vom Schmutz so tief war, daß kein Reinigungsmittel der Welt jemals etwas dagegen ausrichten konnte?
Das Badewasser spielte ruhig an seinem Hals, und Abschaffel sah an die Decke des Badezimmers. Schon wieder war er in Ereignisse verwickelt, die dazu beitrugen, daß er sich schamvoll mangelhaft erlebte. Er verließ die Badewanne mit der festen Überzeugung, daß ihm dieser Tag nicht gelang. Er gab den Tag frühzeitig auf, und dies war der Grund, weshalb er später die gebratenen Spaghetti mit unerhört trauriger Langsamkeit aß und hinterher mit der Gabel im Teller spielte, als er schon lange leer war.
Er wollte irgendwo hingehen, wo er überhaupt nicht hingehörte. Er erwog den Besuch einer Veranstaltung, die ihm, wenn er erst dort war, unablässig Fragen stellen mußte, was er, Abschaffel, hier eigentlich wolle. Vor Tagen hatte er das Plakat einer Landwirtschaftsausstellung gesehen, das ihm nun wieder einfiel. Dort wurden Tiere, landwirtschaftliche Geräte und Maschinen gezeigt; er kam wieder davon ab, weil er sich wünschte, der einzige Besucher der Ausstellung sein zu können. Er hatte sich schon vorgestellt, wie er als einziger zwischen Kühen und Schafen einherging. Aber heute war Sonntag, und die Ausstellung war sicher überfüllt. Statt dessen ging er umher und betätigte verschiedene Einrichtungen in seiner Wohnung. Er zog Schubladen auf und
Weitere Kostenlose Bücher