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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Beendigung des Händewaschens stimmte überein mit der vollständigen Füllung des Beckens mit schmutzigem Wasser. Der Mann drehte den Hahn ab und verschwand. Abschaffel stand vor dem gefüllten Becken und spürte, wie ein Gefühl des Benachteiligtseins sich in ihm ausbreitete. Niemals würde er in der Lage sein, so offen wie der Mann vor ihm seine Mangelhaftigkeit zu zeigen. Abschaffel hätte ruhelos gewartet, bis das Wasser abgelaufen war, wenn er es überhaupt zugelassen hätte, daß sich das Becken so weit füllte. Wahrscheinlich hätte er sich ein ganz anderes Becken gesucht, das es ihm erlaubt hätte, ohne irgendein Aufsehen die Hände zu waschen. Das Wasser floß langsam ab. Die Wartefrau war inzwischen zu Abschaffel gekommen und starrte mit ihm auf den schmutzigen, langsam sinkenden Wasserspiegel. Sie putzte für ihn das Becken aus, als es leer war, und er wusch sich mit ganz wenig Wasser die Hände.
    Er ging in das Bahnhofsrestaurant und bestellte irgend etwas, einen Salatteller. Es gefiel ihm alles nicht mehr. Er wollte weg und woandershin, aber etwas Genaueres konnte er sich wieder nicht wünschen. Mit jedem Bissen wurde ihm unbehaglicher. Der Salat war so kalt, daß er mit jeder Gabel voll ein eisiges Gefühl im Mund bekam. Als ihm das klar war, schob er den Salatteller zurück und ging.
     
    An einem Samstagmorgen wachte er auf, als er das Geräusch von Schritten verwechselte mit dem Geräusch von Eiern in kochendem Wasser, wenn sie auf dem Topfboden leicht auf- und niederhopsen. Für einige Augenblicke glaubte er tatsächlich, in der Küche würden Eier kochen, und zwar schon stundenlang, er schreckte zusammen und wollte sich erheben, da merkte er, daß er sich geirrt hatte. Er hörte auf die leiser werdenden Schritte im Treppenhaus. Abschaffel mochte diese Art von Irrtümern nicht; sie waren ein Zeichen für ihn, daß er zerstreut war, und er wollte nicht zerstreut sein. Erst in der zurückliegenden Woche war er wieder so zerstreut gewesen, daß er glaubte, den richtigen Takt seines Lebens verloren zu haben; er hatte mit einer halb aufgerauchten Zigarette in der Hand in das Badewasser gefaßt, um festzustellen, ob es warm genug sei, und hinterher an der Zigarette weiterrauchen wollen. Später hatte er eine Flasche Haarshampoon versehentlich in den Eisschrank gestellt und eine Flasche Sprudel ins Bad. Er konnte sich lange bei solchen Zerstreutheiten aufhalten und sich ängstigen; er glaubte dann, diese Fehlgriffe seien sichere Zeichen für das, was in den kommenden Jahren vermehrt auf ihn zukäme. Dann stand er am Fenster und hatte bloß noch Angst.
    Abschaffel war aufgestanden und stand in seiner Wohnung herum. Er kratzte sich in der Geschlechtsgegend, weil es ihn dort juckte. Und weil es ihn juckte, kam er unwillkürlich auf die Idee, ob er onanieren sollte oder nicht. Auf die Idee verfallen, hieß bei ihm normalerweise: es sofort tun. Es war erstaunlich, daß er in dieser Lage noch etwas dachte, aber er dachte wirklich, es lieber nicht zu tun. Er fürchtete sich vor dem Gefühl, nach dem Onanieren dick zu werden aus Traurigkeit. Dennoch stand er noch immer mit der in der rechten Hosentasche versenkten Hand in seinem Zimmer herum und kratzte sich. Es war ihm nicht recht, daß er sich so sehr mit seinem Geschlecht beschäftigte. Plötzlich hatte er Lust, es zu betrachten, nachdem es so gekratzt worden war. Er öffnete sich die Hose, setzte sich auf einen Stuhl und sah genau sein Geschlechtsteil an. Mit den Fingerkuppen fuhr er vorsichtig in den Schamhaaren umher und betrachtete die Stellen, wo er gekratzt hatte. Er entdeckte da und dort kleine Punkte, krümelartige Erscheinungen, die ihn sofort interessierten. Mit dem spitzesten Fingernagel, den er hatte, popelte er an einem dieser Punkte herum und hob ihn aus den Schamhaaren heraus. Es war eine Filzlaus. Auf seinem Fingernagel hatte Abschaffel eine Filzlaus liegen. Sie war deutlich erkennbar als lebendes Wesen. An ihrem Körpersaum bewegten sich eine Anzahl kleiner Beinchen ständig auf und ab. Abschaffel sah abwechselnd auf sein Geschlecht und auf die Laus.
    Er erinnerte sich an Erzählungen der Mutter aus der Kriegszeit, die in den Häusern der Mütter und Kinder eine Läusezeit war. Mit äußerstem Abscheu, wobei sie während des Erzählens die Geräusche des Erbrechens mehrfach nachahmte, berichtete sie, wie sie mit gegeneinander geriebenen Fingernägeln die Läuse knackte, die sie auf den blonden Köpfen ihrer Kinder entdeckt hatte. Und

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