Abschaffel
Abschaffel tat es ebenso. Als er sich, nach einer minutenlang verstreichenden Stille aus Entsetzen und Scham, wieder gefangen hatte, drückte er einen Fingernagel seiner anderen Hand auf den Körper der Laus, es knackte wirklich, die Laus war tot, und auf beiden Fingernägeln war das Blut ihres Körpers verspritzt. Sofort suchte Abschaffel nach weiteren Läusen, und es dauerte nicht lange, und er hatte die nächste geknackt. Das Töten der Läuse übte eine befriedigende und beruhigende Wirkung auf ihn aus. Es hatte den Anschein, als könne er gegen die Plage vorgehen, und es hatte sogar den Anschein des Erfolgs, weil er tatsächlich Laus für Laus aus den Schamhaaren hervorholte und die Reste der getöteten Läuse auf ein Papiertaschentuch abwischte.
Erst später, als er mehr als eine Stunde auf dem Stuhl gesessen war und ihm der Rücken schon schmerzte, weil er immerzu in vornübergebeugter Haltung saß, erkannte er das tatsächliche Ausmaß seines Schrecks. Er knackte und knackte, und seine Hoffnung, die Läuse ausrotten zu können, wurde kleiner und kleiner. Immer wieder fand er neue, und er tötete sie schon nicht mehr richtig, weil schwindender Mut und wieder zunehmender Schreck ihn immer mehr schwächten. Er mußte sofort etwas tun, aber was? Er hatte nicht den Eindruck gewonnen, die Pein abgemildert oder gar die Läuse ausgerottet zu haben. Es war Samstag, das Wochenende hatte eben erst begonnen, und die Ärzte hatten keine Sprechstunden. Mindestens bis Montag konnte er nichts Entscheidendes dagegen unternehmen, ein verlauster Mensch zu sein. Er faßte eine Reihe unüberlegter Entschlüsse, von denen er sofort wieder abkam. Einer dieser Entschlüsse war, das ganze Wochenende in der Wohnung sitzen zu bleiben und zu warten. Aber das würde er nicht aushalten können. Er hatte auch schon begonnen, sich das wirkliche Ausmaß der Plage als Katastrophe auszumalen. Die allereinfachste Angstphantasie, die sich seit der Entdeckung der ersten Laus in ihm eingestellt hatte, war, daß die Läuse ja nicht nur in seinen Schamhaaren, sondern überall auf seinem Körper verstreut, auf seinem Kopf vor allem, seien, wahrscheinlich nisteten sie aber auch in seinem Bett, in seiner Wäsche, überhaupt überall. Er konnte nirgends mehr hingehen und nichts mehr anfassen, ohne mit Läusen in Berührung zu kommen. Seine Angst hatte sich schon so festgesetzt, daß er nicht mehr in der Lage war, sinnvolle Rückschlüsse aus zutreffenden Beobachtungen zu ziehen. Obwohl er zum Beispiel beobachtet hatte, daß die Tiere nicht liefen, sondern beinahe wie eingeschraubt festsaßen, hatte er dennoch die Vorstellung, sie würden unerkannt und äußerst schnell ihre Standorte wechseln.
Es war zehn Uhr morgens, und Abschaffel war vollkommen in der Macht seines Schreckens. Er versuchte, sich einer vergleichbaren Lähmung zu erinnern, weil er sich mit der Aussicht ermuntern wollte, daß sich jeder Mensch aus jeder Schmach wieder erheben könne. Aber es gelang ihm nicht, sich an irgend etwas zu erinnern, weil ihm in dieser Stunde das Erinnern überhaupt versagt war. Er kam nicht mehr davon weg, daß ihm so etwas zugestoßen war. Aus Verzweiflung fing er wieder an, Läuse einzeln zu töten. Mit heruntergelassenen Hosen saß er auf einem Stuhl und starrte auf die Gegend um seine Schamhaare. Vom vielen Drücken und Popeln gab es inzwischen zahlreiche gerötete und angeschwollene Stellen, und es bestand kein Zweifel, daß dies das Bild einer Krankheit war. Er untersuchte mit den Fingern erneut das weiche Polster, auf dem seine Schamhaare wuchsen, und er brauchte wieder nicht lange, um ein neues Tier zu entdecken. Sie saßen sehr fest, und wenn sie merkten, daß sie angegriffen wurden, bissen sie sich derart in das Fleisch hinein, daß Abschaffel sie nicht fassen konnte, ohne nicht auch zugleich kleine Hautfetzen wegzureißen. Es war seine erste Begegnung mit Läusen, und er haßte sie so fürchterlich und ging so entschlossen gegen sie vor, daß er nicht einmal auf die Idee kam, sich zu ekeln. Andererseits war die Umgebung seines Geschlechtsteils inzwischen so zugerichtet, so voller Hautabschürfungen, kleiner Blutergüsse und Schwellungen, daß es ihm schwerfiel, sich während der Betrachtung nicht aufzuregen. Als er mit zwei gegeneinander gestellten Fingernägeln an einzelnen Schamhaaren entlangstrich, entdeckte er auch noch die Eier der Läuse. Es waren winzige harte Pünktchen, die einzeln an den Haaren befestigt waren. Auch sie knackten, wenn sie
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