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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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zwischen zwei Fingernägeln zerdrückt wurden. Abschaffel machte sich endgültig klar, daß er allein nicht in der Lage war, sich von den Läusen zu befreien. Er konnte auf keinen Fall jedes Schamhaar kontrollieren, ob nicht ein kleines Lausei daran klebte. Diese Einsicht machte ihn für Minuten vollständig weich und hoffnungslos. Er lehnte sich im Stuhl zurück und gab sich geschlagen. Mindestens für diesen Sonntag war er ein Opfer, das sich nicht mehr zu helfen wußte. Es ekelten ihn nicht die Läuse, sondern seine Hilflosigkeit. Betroffen zog er sich die Hose hoch. Seine Vorstellungskraft war so eingeschränkt, daß er einen Augenblick lang glaubte, vielleicht nicht mehr gehen zu können. Aber er konnte gehen. Wieder fühlte er sich betrogen. Es durfte der Mensch nicht so gedemütigt werden. Wenn es so war, wie es ganz offenbar wirklich war, daß der Mensch ohne weiteres, das heißt nur mit einer lächerlichen Entdeckung, seine Würde verlieren konnte und im Verlauf dieses Verlustes überhaupt alle Fähigkeiten verlor und nur noch aus Zittern und unterbliebenem Heulen bestand, dann war Grund genug vorhanden, jeden Tag mit Verachtung zu beginnen. Voller Verachtung stand Abschaffel in seiner wahrscheinlich verlausten Wohnung. Er beschloß, die Wohnung zu verlassen, auf den Straßen umherzugehen und sich zu zerstreuen, vielleicht den Bahnhof zu besuchen. Beim Anziehen der Schuhe riß ihm ein Schnürsenkel. Er erinnerte sich an ein Paar Ersatzschnürsenkel in einer Schublade in der Küche, und er überlegte, ob er in beide Schuhe neue Schnürsenkel einziehen sollte oder nur in einen, ob er also den anderen Schnürsenkel, der nicht gerissen war, weiter benutzen sollte. Wenn er nur einen neuen Schnürsenkel einzog, riskierte er, daß der andere bald riß, da er gegenüber dem neuen veraltet war; dann würde Abschaffel bald wieder vor dem gleichen Problem stehen. Wenn er beide neuen Schnürsenkel einzog, hätte er einen alten übrig. Erst jetzt bemerkte Abschaffel, welche enormen Energien an Nachdenklichkeit er an dieses sinnlose Problem verschleuderte. Er wurde wütend und überlegte überhaupt nicht mehr. Er riß beide alten Schnürsenkel heraus und zog die neuen ein, band die Schuhe fest und verließ die Wohnung.
    Mit der Straßenbahn fuhr er in Richtung Bahnhof. In der Straßenbahn fielen ihm wieder die Läuse ein, allerdings dachte er an sie schon mit gemildertem Entsetzen. Sie schienen ihm plötzlich nicht mehr so fürchterlich zu sein. Andere hatten Krebs und Sprachfehler, wieder andere waren schwachsinnig oder hatten keine Arme, was waren dagegen schon ein paar lächerliche Läuse! Gar nicht weit von ihm entfernt saß ein Mann, der nur noch einen Arm hatte; der Ärmel des Mantels an der armlosen Seite war oben zu einer kappenartigen Abrundung zusammengenäht. Abschaffel betrachtete den Mann interessiert und bedauerte ihn. Sicher hätte er jederzeit Abschaffels Läuse übernommen, wenn er dafür seinen Arm wiederbekommen hätte. Und wahrscheinlich würde der Mann gar nicht verstehen, daß man wegen einiger Läuse soviel Aufhebens machte. Um die andere Hand, mit der er eine Henkeltasche hielt, frei zu bekommen, klemmte sich der Mann die Henkeltasche sogar über den Armstummel. Wo der Arm eines Mannes sein sollte, klemmte jetzt eine schmutzige Henkeltasche. Abschaffel begann sich zu genieren, und er strengte sich an, den Mann nicht mehr zu betrachten. Er sah aus dem Fenster, und er bemerkte an den Häusern viele Weihnachtsdekorationen und Wandbilder mit Nikolausmotiven. Da und dort waren Christbäume mit elektrischen Kerzen aufgestellt. Abschaffel bekam Lust zu schimpfen, und er schimpfte im stillen gegen die Weihnachtsdekorationen. Diese blöden, lächerlichen Christbäume, diese peinlichen, überflüssigen Bilder, dieses entsetzliche Lichterzeug überall. Abschaffel stieg zwei Stationen vor dem Hauptbahnhof aus, weil er den Rest der Strecke gehen wollte. Die Läuse hatte er inzwischen schon fast vergessen. Es war nur das Gefühl einer Behinderung geblieben, das ihm als Gefühl nicht unbekannt war. Er fühlte sich häufig behindert und eingeschränkt. Vermutlich hatte sich dieses Gefühl überhaupt an die Stelle seines Lebens gesetzt, und ob dieses Gefühl nun von den blöden Weihnachtsengeln, von Läusebefall oder von einer verpatzten Kindheit herrührte, war ihm heute möglicherweise gleichgültig.
    Ein Kind kam ihm entgegen und richtete ihm den Lauf einer Plastikpistole ins Gesicht, und tatsächlich hielt sich

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