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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Abschaffel nach Art alter Leute eine Hand vor das Gesicht. Das Kind ließ gleich die Plastikpistole nach unten sinken, und Abschaffel merkte, daß er das Kind enttäuscht hatte. Es hatte sicher geglaubt, er, Abschaffel, sei ja noch jung, er werde sicher nicht hereinfallen auf eine Plastikpistole, und dann hatte er sich doch benommen wie ein alter Mann, der eine Plastikpistole nicht mehr von einer richtigen Pistole und ein Kind nicht mehr von einem Gewaltverbrecher unterscheiden kann. Und als Abschaffel an dem Kind vorbeiging, zog er beleidigt den Mantel zusammen. Wenn er schon nicht wirklich bedroht war, dann wollte er wenigstens nicht frieren. Aber wovor hatte er sich denn gefürchtet? Im Ernst hatte er keinen Augenblick lang geglaubt, es werde sich ein Schuß aus der Plastikpistole lösen und ihn treffen. Es blieb nichts anderes übrig, als sich einzugestehen, daß er sich gefürchtet hatte vor dem laschen Patsch, den die Plastikpistole möglicherweise hätte von sich geben können, oder, das fiel ihm auch noch ein, er hatte sich nur geängstigt vor dem schmerzverzerrten Gesicht, das das Kind hergezeigt hatte, als es die Pistole auf ihn richtete.
    In der Bahnhofshalle wurde ihm gleich leichter. Erstaunlich viele Menschen liefen hier umher, und das große Dach, das über sie alle gespannt war, war etwas Gutes. Es war hier etwas wärmer als draußen, und Abschaffel öffnete den Mantel. Er blieb stehen und sah auf die Gastarbeiterfamilien, die in Gruppen bei ihren Koffern und Kartons saßen und auf die Abfahrt von Zügen warteten. In den Gastarbeiterfamilien war der Mann der Dirigent der äußeren Ereignisse, und die Frau leitete die inneren, familiären Vorgänge. Der Mann beschaffte die Fahrkarten und erkundigte sich nach den laufenden Veränderungen, und die Frau achtete darauf, daß sich die Kinder nicht von den Koffern entfernten. Er war unterwegs, sie blieb sitzen. Er unterhielt sich mit den Männern anderer Familien und sagte seiner Frau, was er erfahren hatte. Die Frau war dafür verantwortlich, daß die Kinder den Vater nicht belästigten bei seinen Außengeschäften. Kam der Mann heran und ein Kind wollte zu ihm, drängelte es die Mutter zurück. Die Frauen und Mütter wurden nicht angesprochen von anderen; der Mann war das Sprechorgan der Familie nach außen. Der Mann war auch oft der einzige, der aufrecht auf seinen Beinen stand, alle anderen saßen auf Koffern und Kartons. Der Vater rauchte stehend für sich allein eine Zigarette, und eine halbe Menschengröße unter ihm fütterte die Mutter das Kleinkind mit Brei und Brot.
    Abschaffel sah eine Weile zu, wie eine ältere Mutter mit Kopftuch drei Kinder fütterte, und es gefiel ihm so sehr, daß er wünschte, selbst gefüttert zu werden. Natürlich war das nie mehr möglich in seinem Leben. Die Abwandlung dieses Wunsches ergab für ihn, daß er Hunger verspürte. Nein, er verspürte keinen Hunger, er wollte nur essen, er wollte etwas im Mund haben. Jedoch war es erst elf Uhr, und außerdem mußte Abschaffel auch den Essenswunsch wieder abwandeln, denn der Monat erreichte in diesen Tagen sein Ende, und Abschaffel mußte überlegen, ob er zehn Mark für ein Mittagessen mit Bier so einfach ausgeben konnte. Er konnte es nicht. Er wollte für ein Mittagessen höchstens fünf Mark ausgeben, und das bedeutete, daß er sich nicht in einem Restaurant bedienen lassen konnte. Auf diese Vorstellung war sein Wunsch aber hinausgelaufen. Er schlenderte einmal durch das Bahnhofsrestaurant hindurch. Er sah auf die Leute, die hier saßen und ihre Mahlzeiten zu sich nahmen. Es gab Personen, die zerstörten zunächst ihr Essen mit dem Besteck und ebneten es zu einer breiigen Fläche ein und begannen dann erst zu essen. Andere ließen den Aufbau des Gerichts unberührt und aßen vorsichtig von dieser Anordnung herunter. Es genügte, daß Abschaffel diesen Essern eine Weile zusah, um nicht mehr bei ihnen sein zu wollen.
    Er beschloß, später in eine Imbißstube im Bahnhof zu gehen, und überlegte, wie er die Zeit im Bahnhof so verbringen konnte, daß er nicht merkte, wie die Zeit verging. Es fiel ihm ein großer Automat auf, vor dem einige Männer standen. Abschaffel stellte sich hinzu. Es war ein Computer, der vollautomatisch Fahrplanauskünfte gab. Der Automat hatte die Größe eines Türrahmens und war rot angestrichen; vorn blinkten verschiedene Lämpchen auf einer Schautafel. Der Automat erregte die Bewunderung der Männer; sie sprachen über ihn, und was sie sagten, war

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