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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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lange. Er verlor die Lust an allem und hörte mit Essen auf. Er riß das parfümierte Tüchlein, das dem Huhn auf dem Tellerrand beigegeben war, aus der Verpackung heraus und wischte sich die Hände ab. Abschaffel wollte miterleben, wie der ausländische Aufräumer erschien und Abschaffels Huhnreste in die Abfallmulde unter die Stehtheke kippte. Deshalb zögerte er das Händeabwischen hinaus und trank etwas Bier. Und wirklich erschien ein kleiner dunkelhaariger Mann in einem weißen Jackett und nahm, ohne Abschaffel anzusehen, die Huhnreste weg und ließ sie vom Teller herunter in die Kippe hineinrutschen. Abschaffel sah ihm zu.
    Er ging aus der Imbißstube hinaus und fühlte, daß er langsam traurig wurde. Er wurde sich wieder bewußt, daß er allein war, daß er Läuse hatte, daß er wenig Geld hatte und daß er nun wahrscheinlich wieder nach Hause gehen mußte. Er fürchtete sich davor, alle seine Mangelerfahrungen würden sich in einem einzigen Zustand treffen, der ihn dann stundenlang quälte. Er begann, gewisse Spiele des Alleinseins, die er sich erfunden hatte, zu spielen, und es war ihm nicht recht. Zum Beispiel riß er von einem Papiertaschentuch kleine Ecken herunter, formte sie zu Kügelchen und ließ sie in Abständen von etwa zehn Metern einzeln aus seiner Manteltasche fallen. Und, ein anderes Spiel, das aus seiner Kindheit stammte und wie ein übler Rest heute noch in sein Leben hineinragte: Er achtete darauf, daß er beim Gehen in der Halle seinen Fuß immer in die Mitte der Steinplatten setzte; oder er sah nacheinander auf verschiedene Uhren in der Bahnhofshalle und hoffte, die Uhren einmal dabei zu erwischen, wenn sie verschiedene Zeiten angaben. Er blickte zwischen verschiedenen Zifferblättern hin und her, und er wollte den Augenblick erleben, wenn ein Minutenzeiger einen Strich weiterrückte. Dann wollte er ganz schnell auf die anderen Uhren sehen und feststellen, ob die Zeit aller öffentlichen Uhren immer die gleiche war. Noch während er sich dies zu verfolgen vornahm, wurde es ihm schon wieder langweilig. Plötzlich stand er nur noch da und wußte nicht mehr, wohin. Er stand genau neben einem Briefkasten, und er sah, wie eine Frau mit einem eben zu Ende geheulten Kummer im Gesicht einen Brief einwarf. Er stellte sich vor, wie der Frau zumute gewesen sein mochte, und er vermutete folgenden Ablauf: 1. Ausbruch von gemüthafter Unruhe, Sehnsucht und Heulen. 2. Einen Brief schreiben. 3. Sich beruhigen. 4. Den Brief im Hauptbahnhof einwerfen. 5. Dabei wieder Ausbruch von gemüthafter Unruhe, Sehnsucht und Verzweiflung. 6. Nach Hause gehen und sich schämen.
    Schnell verließ Abschaffel die Bahnhofshalle. Die fünf Mark, die er beim Mittagessen gespart hatte, gab er für eine Taxifahrt nach Hause aus. Der Taxifahrer sagte etwas, und Abschaffel gab keine Antwort. Ganz kurz fühlte er sich deswegen wohl. Es gab viel zuwenig Gelegenheiten, wo es einem erlaubt war, keine Antwort zu geben. Während der Taxifahrt beschloß er, morgen nicht zur Arbeit zu gehen. Er würde im Betrieb anrufen und sagen, er sei krank. Er war, seit er bei Ajax arbeitete, nie richtig krank gewesen, und im Betrieb würde man es ihm gönnen, wenn er einmal zwei oder drei Tage zu Hause blieb. Hatte er denn überhaupt jemals einen Arbeitstag versäumt? Er hatte das Gefühl, immer dabeigewesen zu sein. Er nahm sich vor, am Montagmorgen einen Arzt ausfindig zu machen und sich anzumelden.
    In der Stille seiner Wohnung zog er die Schuhe aus und traf Vorbereitungen, den Sonntagnachmittag halb schlafend, vielleicht ganz schlafend, auf jeden Fall liegend, zu verbringen. Weil er immer noch Hunger verspürte, nein, weil er schon wieder etwas im Mund haben wollte, machte er sich ein Wurstbrot und stellte es sich neben das Bett. Außerdem ein Glas Sprudelwasser, Aschenbecher, Zigaretten und Streichhölzer. Diese Vorbereitungen machten ihn erneut niedergeschlagen. Es war das spürbare Kleinerwerden der Wünsche, was ihn betrübte. Plötzlich war er zufrieden mit einem Wurstbrot, einem Glas Wasser und Zigaretten.
    Am Montagmorgen war er sofort wach. Immerzu wollte er in Bewegungen hineingeraten, die er sonst ausführte, wenn er zur Arbeit ging. Er putzte sich die Zähne, indem er den Kopf tief in das Waschbecken hinunterbeugte und mit einer wütenden Schnelligkeit die Zahnbürste hin- und herführte und dabei auch noch die Augen zusammenkniff. Er hielt inne und reckte den Oberkörper nach oben und sah seinen weiß eingeschäumten Mund im

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