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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Praxis war mit altem Parkett ausgelegt. Rings um das Wartezimmer waren ächzende Schritte zu hören. Da wurde Abschaffel schon aufgerufen. Der Arzt war so alt wie das Haus, in dem die Praxis war. Ja, wo haben wir’s denn, was können wir denn für Sie tun, sagte der Arzt in einem überdrehten Tonfall, den auch kleine Kinder anwenden, wenn sie Arzt spielen. Ich glaube, ich habe Filzläuse, sagte Abschaffel fest. So, sagte der Arzt, dann zeigen Sie mal her. Abschaffel fürchtete, das Reden des Arztes sei so laut, daß es in allen anderen Räumen gehört werden könnte; er setzte ein ganz leises Sprechen dagegen, um den Arzt auf die Idee zu bringen, selbst auch leiser zu sprechen. Abschaffel hatte die Hose geöffnet, sein Kopf war über das Geschlechtsteil gebeugt, ebenso der Kopf des Arztes. Abschaffel löste mit den Fingernägeln ein Tier aus den Schamhaaren und sagte mit unerträglich leiser Stimme: Sehen Sie. Die Scham hatte ihm inzwischen die Stimme fast vollständig verschlagen, der Arzt jedoch war bei seiner Lautstärke geblieben. Er beugte sich hoch und setzte sich an seinen Schreibtisch. Die werden wir vergasen, sagte er, Sie können sich anziehen. Abschaffel sagte gar nichts mehr. Der Arzt schrieb ein Rezept aus und sagte: Damit reiben Sie sich zweimal am Tag ein, einmal morgens und einmal abends, das machen Sie drei Tage lang, dann sind sie weg. Während der Arzt schrieb und seinen Stempel vorsichtig auf das Rezept setzte, fragte Abschaffel leise: Wo und wie kann man denn so etwas kriegen? Oh, sagte der Arzt, das kann sehr schnell gehen; verkehren Sie in nicht ganz sauberen Lokalen? Abschaffel verneinte wortlos. Oder haben Sie in einem nicht sehr sauberen Hotel übernachtet? Nein, sagte Abschaffel. Nun, auf irgendeiner Toilette werden Sie sich das geholt haben, das geht heutzutage sehr schnell. Der Arzt gab ihm das Rezept und stand hinter seinem Schreibtisch auf. Abschaffel erhob sich ebenfalls, und der Arzt gab ihm die Hand. Abschaffel fühlte sich sonderbar, aber er gab sich gegenüber zu, daß er beruhigt worden war.
    Das Gefühl der Beruhigung verstärkte sich, als er auf der Straße war. Das Medikament, das ihm der Arzt verschrieben hatte, wollte er erst gegen Abend holen. Zunächst hatte er Lust, mit der U-Bahn in die Stadt zu fahren und in erleichterter Stimmung dort umherzulaufen. Zuvor ging er auf die Bank, und obwohl er sein Konto bereits wieder überzogen hatte, gab ihm die Bank noch immer Geld. Abschaffel war nicht daran gewöhnt, daß so vieles gelang. Er erwartete, nun mußten sich doch bald irgendwelche entscheidenden Widrigkeiten für diesen Tag geltend machen. Aber alles, was geschah, war harmlos. Er wurde von einem in einem Auto eingesperrten Hund angebellt; mächtig sprang der Hund von innen gegen die schon vollständig verschmierten Scheiben. Abschaffel machte zwei schnellere Schritte an dem Auto vorbei. In der U-Bahn setzte er sich auf eine Doppelbank. Auf der anderen Seite der Bank saß ein dicker Mann, der auf seinem Platz ständig leicht hin- und herwippte. Dadurch waren Doppelbank und Abschaffel ebenfalls in dauernder Bewegung. Abschaffel drehte sich einmal um, aber der Mann war versunken in sein Wippen und nahm ihn in seiner vorwurfsvollen Haltung nicht wahr. Was war das, wenn man in der U-Bahn gewippt wurde und es nicht wollte? Es war alles mögliche, aber schlimm war es nicht. Immer wieder fuhr die Bahn in das Helle der Haltestationen und in das Dunkel der Fahrstrecken zurück. Das Vertrauen darauf, daß bei der Fahrt durch die Schächte kein Unglück geschah, mußte bei allen Fahrgästen sehr groß sein. Niemand schrie auf, daß er Angst hätte. Und niemand ging davon aus, daß man auf ein hartes Hindernis auffahren werde. Abschaffel dämonisierte die Umwelt, weil er einen freien Tag hatte; er glaubte, alles sei irgendwie nicht in Ordnung, nur weil er einmal frei darin umhergehen konnte. Aber die U-Bahn fuhr in großen Bogen von Station zu Station, Leute stiegen aus und ein, und alles, was geschah, war allen Leuten bekannt.
    Mitten in der Stadt stieg er aus. Das Wetter war klar und kalt. Wo er ausgestiegen war, befand sich eine Markthalle, und weil Abschaffel fror, ging er gleich hinein. Über das Bild, das sich ihm bot, war er so verblüfft, daß er nicht mehr weiterging. Eine große warme Halle voll mit Marktständen, einer neben dem anderen. Hunderte von Menschen liefen dazwischen umher und kauften ein und schwätzten und liefen weiter. Er empfand, daß ihm das Bild wohltat.

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