Abschaffel
Immer noch wollte er die Läuse sterben sehen. Er stellte sich mit den Schamhaaren dicht an den Lichtschein einer Lampe heran, aber außer dem weißen Geflecht, das spinnwebartig in den Schamhaaren hing, war nichts zu sehen. Am nächsten Morgen sah er sofort wieder nach. Die Emulsion war vollständig eingetrocknet. Wie Asche hingen winzige Teilchen in den Schamhaaren, und als er mit den Fingern durch die Haare strich, fielen sie heraus und lösten sich ganz auf. Er wusch sich sorgfältig und trug sich erneut eine Portion JACUTIN auf. Er bewegte sich sehr langsam und hielt in allem, was er tat, oft inne. In der Wohnung über ihm, in der abends häufig eine Kugel über den Küchenboden zu rollen schien, wurden tagsüber laufend Stühle hin- und hergerückt. Abschaffel wußte nicht, wieviel Menschen in dieser Wohnung lebten, und irgendwann hatte seine Neugierde auch aufgehört, es wissen zu wollen. Abends hatte er schon öfter verschiedene Menschen nach oben gehen sehen, Männer und Frauen, aber weil die Gesichter häufig wechselten, war er es überdrüssig geworden, sich einen Zusammenhang dazu vorzustellen. An diesem Morgen reizte es ihn wieder, die Gründe der Ereignisse in dieser Wohnung zu kennen. Warum wurden nur immerzu Stühle umhergerückt? Wurde eine Versammlung abgehalten? Das schien zu dieser Stunde unwahrscheinlich. Es konnte auch von einem Kind herrühren, das allein war und seine Angst in Spaß umwandelte, indem es die Stühle ineinander- und aufeinanderschob. Nur hatte Abschaffel nie eine Kinderstimme aus der oberen Wohnung gehört. Konnte es sein, daß ein schweigsamer Erwachsener morgens Stühle umherrückte? So phantasierte Abschaffel über die Geräusche aus Nachbarwohnungen weiter, ohne zu merken, daß seine Phantasien das erste Suchen nach einer Abwechslung waren. Schon nach einem Tag war er bereit, jede eigene Tätigkeit zu unterbrechen, wenn er irgendwo ein Geräusch hörte. Ein Höhepunkt der erhofften Störungen ergab sich, wenn draußen im Treppenhaus jemand vorüberging. Wenn es Kindern in Wohnungen langweilig ist, öffnen sie die Tür und schauen hinaus, wenn jemand vorübergeht, und schließen sie schnell wieder. Abschaffel war kein Kind mehr, und er traute sich nicht, die Tür zu öffnen und nachzuschauen. Eine Nachahmung des Verhaltens von vielen Hausfrauen, die unter dem Vorwand einer putzenden Tätigkeit die Tür öffneten, kam für ihn nicht in Betracht. Was er mit diesen Frauen nur teilte, war die rasche Neugierde auf alle Nebensächlichkeiten. Alleinsein war nicht gut. Es führte den Kopf auf die Spur der Enge und der Demütigung. Abschaffel hatte seine vorigen Phantasien über das Kind, das in der oberen Wohnung möglicherweise Stühle umherschob, längst vergessen, als er plötzlich, wieder aus der Wohnung über ihm eindeutig das Geräusch einer Waschmaschine hörte. Es war ein gleichmäßiges elektrisches Raunen mit kurzen Pausen dazwischen, wenn die Waschmaschinentrommel in die andere Richtung gedreht wurde. Eine Waschmaschine konnte von einem Kind nicht in Gang gesetzt werden. Es mußte eine Frau in der Wohnung sein. Aber wie war dann das lange Umherschieben der Stühle zu erklären? Es war nicht zu erklären, und jetzt erst bemerkte Abschaffel, daß er einer Art Wohnwahn zum Opfer gefallen war. Der Wahn bestand darin, daß in die tote Umgebung Leben hineinimaginiert werden mußte, wenn man sich nicht selbst tot vorkommen wollte mit der Zeit. Abschaffel wurde von einer Panik ergriffen. Er führte alle Bewegungen schneller aus, und wenn ihm etwas nicht gelang, wurde er unverhältnismäßig zittrig und nervös. Er beschloß, die Wohnung rasch zu verlassen und in die Stadt zu fahren.
Noch in der U-Bahn wurde er nicht fertig mit der Panik. Er bemerkte es wie immer daran, daß ihm Harmlosigkeiten unheimlich wurden und er zu heftig auf alles reagierte, was ihm zu sehr auffiel. Plötzlich konnte er es nicht ertragen, wenn Ausländer in ihrer Sprache miteinander redeten und er nichts verstand. Und er war nicht fähig, sich mit einigen Überlegungen die Sache zu erklären. Vier Ausländer saßen sich in der U-Bahn gegenüber und zeigten sich Fotos und Briefe und redeten laut. Er fühlte sich bedroht, weil er erraten mußte, worüber sie redeten. Wie kleinlich wird die Phantasie, wenn sie sich mit unverstandener Sprache beschäftigt! Mit hängendem Blick sah er hinüber zu den Ausländern und bettelte stumm, daß sie rasch die U-Bahn verließen. In dieser Stimmung wollte er nicht mit
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