Abschaffel
Spiegel. Er erinnerte sich, daß er im Kino schon oft gesehen hatte, wie Personen sich die Zähne putzten und dabei aus dem Fenster sahen. Er sah nun auch aus dem Fenster und putzte sich die Zähne dabei. Zu fast allem, was er tat, mußte er sich vorher sagen, daß er viel Zeit dazu hätte. Er zog sich sorgfältig an, sagte zu den Läusen den Satz HEUTE TREFFE ICH VORBEREITUNGEN ZU EUREM SCHNELLEN TOD , als er sich die Unterhose anzog. Er rief im Betrieb das Personalsekretariat an und meldete sich krank. Er setzte Wasser für den Kaffee auf, da fiel ihm Frau Kaiser ein. Er hatte ihren Wohnungsschlüssel, und er wollte ihn zurückgeben, ohne mit Frau Kaiser selbst in Kontakt zu kommen. Er beschloß, den Schlüssel, wenn er später zum Arzt ging, in ihren Briefkasten zu werfen. Abschaffel trank Kaffee und suchte im Branchenverzeichnis des Telefonbuchs einen Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, der möglichst bei ihm in der Nähe wohnte. Er war erstaunt, daß er in seiner unmittelbaren Wohngegend gleich unter drei Ärzten wählen konnte. Er war noch erstaunter, als er sofort einen Termin bekam, um elf Uhr sollte er kommen. Als er aufgelegt hatte, wollte er gleich noch einmal nachfragen, ob der schnelle Termin auch wirklich aufrechterhalten werden könne von seiten des Arztes, aber er ließ es dann doch. Er hatte sich dahin gebracht, alles so gelten zu lassen, wie es sich ihm darbot. Das gehört eben zu einem freien Tag, dachte er.
Er konnte sich nicht erinnern, in den letzten zehn Jahren bei einem Arzt gewesen zu sein. Wie eine alte Frau, die sich in der Unterwäsche sehen lassen muß, präparierte er sich für elf Uhr. Er duschte und zog frische Unterwäsche an. Sollte er auch die Schuhe putzen? Nein, das war nicht seine Konfirmation, sondern ein lächerlicher Arztbesuch. Es fiel ihm ein, daß seine anspruchslosen Eltern einen Hausarzt hatten, der häufig kam. Entweder hatte er, Abschaffel, einen Husten oder etwas Fieber, oder, noch häufiger, die Mutter lag im Schlafzimmer bei heruntergelassenen Rolläden, und irgend etwas, was kein Mensch genau kannte, fehlte ihr. Wenn der Besuch des Arztes angekündigt war, war schon stundenlang vorher eine feierliche Stimmung in die Wohnung eingezogen. Die Mutter hatte die Bettwäsche gewechselt, und er, Abschaffel, mußte auf ihr Geheiß einen frischen Schlafanzug anziehen und durfte sich nicht allzusehr darin bewegen, damit der Schlafanzug nicht wieder verkrumpelt war, wenn der Arzt endlich am Bett saß. Und Abschaffel erinnerte sich, daß er Arztbesuche überhaupt nicht mochte, er haßte es, wenn die Mutter krank war, wenn sie nicht umherlief. Er mochte es auch nicht, wenn er selbst krank war und wenn die Mutter im Flur leise mit dem Arzt sprach. Abschaffel hatte die Mutter im Verdacht, den Arzt übermäßig oft zu rufen, und oft hatte er Lust gehabt, dem Arzt schon an der Zimmertür entgegenzurufen, daß hier niemand krank sei und daß er verschwinden sollte. Abschaffel hatte als Kind auch beobachtet, daß sich die Mutter für den Arztbesuch unvergleichlich herrichtete, weit mehr als für den Vater. Sie richtete sich so sehr her, daß sie sich, wenn der Arzt weg war, wieder herunterrichten mußte. Tatsächlich war in der Familie Abschaffel nie jemand ernsthaft krank gewesen, der Vater schon gar nicht. Er arbeitete wie eine Maschine jahraus, jahrein; seinen Urlaub, den er ängstlich und ratlos zu Hause verbrachte, begriff er nicht. Auch die Mutter war nie ernsthaft krank gewesen, aber sie legte sich gern tagsüber ins Bett und ließ den Arzt kommen. Denn es war schwierig, nie wirklich krank sein zu können.
Abschaffel verlangsamte sein Gehen, weil er glaubte, es müsse solide aussehen, wenn er zum Arzt ging. Als er unten auf der Straße in seinen Briefkasten schaute, fiel ihm ein, daß er seinen Briefträger nie gesehen hatte. Oder war es eine Briefträgerin? Er überlegte, ob er warten sollte, um den Briefträger zu sehen, oder, und das stellte er sich sehr schön vor, er wollte den Briefkasten überhaupt ausschalten und seine Hand hinhalten, in die der Briefträger die Post heute hineinlegen sollte. Von allem war er wieder abgekommen. Er saß im Wartezimmer, und es war elf Uhr. Außer ihm warteten zwei Frauen auf bunten Holzstühlen; eine wurde aufgerufen und verschwand, die andere sah Abschaffel nicht an. Die Sprechstundenhilfe erschien in einem Türrahmen und reichte ein Päckchen in das Wartezimmer, das die andere Frau in Empfang nahm, und verschwand. Die ganze
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