Abschaffel
Margot zusammentreffen. Er mußte sich lockern. Und er wollte endlich davon befreit sein, daß ihm immerzu irgend etwas auffiel. Er wollte eine belanglose Wahrnehmung haben, weil er sich davon Ruhe versprach. Er wollte sich selbst belanglos fühlen. Er redete auf sich ein und versuchte seine Spannungen zu beruhigen. Zum Glück stiegen die Ausländer an einer der nächsten Stationen aus und ließen den U-Bahninnenraum ruhig zurück. Abschaffel stützte sich den Kopf ab. Es war ihm noch nicht gelungen, aus seiner Enge herauszufinden. Die Ruhe in der U-Bahn tat ihm gut. Er wäre gern weitergefahren, aber er mußte aussteigen. Er fuhr auf einer Rolltreppe an das Tageslicht, und gleich fand er alles zu hell. Für die Verabredung mit Margot war es zu früh. Ganz langsam trödelte er an den Schaufenstern kleiner Geschäfte vorbei und achtete darauf, nichts zu bemerken. Er drückte sogar die Augen etwas zusammen, so daß er seine eigenen Wimpern sah. Das gefiel ihm gut, und er blieb stehen und drückte die Augen etwas weiter zu, weil er seine Augenwimpern näher und dichter sehen wollte. Plötzlich war er ganz bei sich angekommen. Die Außenwelt war ausgeschlossen. Abschaffel beschäftigte sich mit seinen Augenwimpern, das war alles. Rasch wurde er gestört. Er hörte irgendwo eine Spielzeugpistole knallen. Hatten denn neuerdings alle Kinder solche Pistolen? Abschaffel riß die Augen auf, und er sah einen Jungen, der auf einem Balkon stand und aus einem Plastikgewehr Schuß für Schuß abfeuerte. Trocken zerplatzten die Geräusche in der Luft, und Abschaffel merkte, wie er wider Willen zu dem Jungen hochsah. Sofort war er wieder in allen Störungen drin. Er wünschte sich, daß das Kind überraschend von seinem rabiaten Vater nach hinten in die Wohnung gezerrt würde. Abschaffel nahm den großen anderen Lärm, der außer dem schießenden Jungen auch noch um ihn herum war, gar nicht mehr wahr. Abschaffel blickte hoch zu dem Balkon; sein Blick wurde bettelnd, und bald wurde es sein ganzes Gesicht. Das Kind wurde nicht in die Wohnung gezerrt. Es lief immer wieder von neuem in dem kleinen Rechteck des Balkons auf und ab. Abschaffel mußte einsehen, daß er verschwinden mußte; mit klagend heruntergezogenem Gesicht ging er endlich. Wo konnte er hingehen und sicher sein, nicht von neuem in etwas hineingezogen zu werden? Er verzichtete schon darauf, sich an einem Kiosk Zigaretten zu kaufen, weil an dem Kiosk zwei Personen auf Bedienung warteten. Wenn eine dritte Person hinzutrat, bestand die Möglichkeit, daß alle drei darüber redeten, welch einer Unverschämtheit sie hier ausgesetzt seien. Abschaffel konnte derartige Zeitvertreibsgespräche nicht gut leiden.
Zu seiner Verabredung mit Margot fehlten noch immer zwanzig Minuten. In das Lokal wollte er sich nicht vorzeitig setzen. Er wußte nicht, was er tun sollte, um irgendwo dazuzugehören. Er lief über einen Platz, und er beschloß, sich auf eine Holzbank zu setzen und zu warten. Es war kalt, und es war unwahrscheinlich, daß sich jemand zu ihm setzte. Tatsächlich gelang es ihm, zwanzig Minuten lang allein zu sein und nichts Besonderes zu beobachten. Er hatte sich so auf die Bank gesetzt, daß er die meisten Vorübergehenden mit dem Rücken an sich vorbeigehen sah. Immer wieder sah er vermummte Hinterköpfe und Mäntelrücken. Das gefiel ihm, obwohl er fror, aber das Frieren war eindeutig und banal.
Margot saß schon in dem Lokal, als er eintrat. Ich bin gerade eben gekommen, sagte sie. Es ist kalt, sagte Abschaffel. Sie saßen am gleichen Tisch wie am Tag zuvor. Sie fragte nicht, wo Abschaffel gewesen war und was er getan hatte, sondern fing an, von ihrer Ehe zu erzählen. Sie bestellten Pizza und Rotwein, und sie sagte, ihr Mann hätte sie im letzten Jahr, bevor sie ihm weggelaufen war, nur noch zur Hälfte ausgezogen, wenn er mit ihr schlafen wollte. Er wollte mich nur noch unten haben, sagte sie. Und du hast nie etwas gesagt, sagte Abschaffel. Nein, sagte sie. Schon die Ehe meiner Eltern war vollkommen irrsinnig, sagte sie; weil sie sich überhaupt nicht begriffen haben, konnten sie es gut miteinander. Ich habe die Rolle meiner Mutter gelernt: nichts begreifen und alles tun. Mein Elternhaus war gut katholisch, und ich hatte als junges Mädchen eine ganze Menge katholischer Liebschaften, also junge Männer, die nie mit mir schliefen, sondern mich immer gleich heiraten wollten, und einer von diesen Männern, der mich sieben Jugendjahre lang angestaunt hat, ist dann
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