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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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sagte Abschaffel erleichtert. Ich habe einer früheren Kollegin versprochen, sie heute nachmittag zu besuchen, sagte sie, das habe ich ihr schon so oft versprochen und habe es so oft nicht gehalten, und heute will ich es halten, endlich einmal. Wann mußt du denn weg? Gleich, sagte sie, eigentlich müßte ich schon weg sein. Soll ich keinen Wein mehr bestellen? Nein, auf keinen Fall, sagte sie.
     
    Am Morgen des folgenden Tages untersuchte Abschaffel zum drittenmal seine Schamhaare. Wenn alles so einfach war, wie der Arzt versprochen hatte, dann durfte an diesem Morgen keine Laus mehr am Leben sein. Abschaffel setzte sich auf seinen Stuhl. Mit den Fingern fuhr er sich durch die Schamhaare, hob sie hoch und sah sie sich an. Und wirklich, es gab keine grauen Punkte mehr, die Läuse hatten sich aufgelöst. Er suchte und suchte, aber auch in den Hautfalten war er läusefrei. Abschaffel war in guter Verfassung. Noch einmal, mehr sich selbst zur Freude denn aus Notwendigkeit, rieb er sich mit JACUTIN ein. Zur Mittagszeit war er wieder mit Margot verabredet. Er glaubte, daß sie heute mit ihm nach Hause ginge, wahrscheinlich schon bald nach dem Mittagessen. Er sah in seinem Zimmer umher und überlegte, ob er aufräumen und saubermachen sollte. Er nahm zwei herumliegende Hosen weg und hob vom Boden einige Banderolen von Zigarettenpackungen und einige Staubwolken auf. Seinen Schallplattenspieler staubte er sorgfältig ab. Er hatte sich dieses Gerät vor mehr als zwei Jahren gekauft, weil er einmal geglaubt hatte, es werde sein Leben erleichtern. Das Gerät war eine Weile fast jeden Tag in Betrieb gewesen, dann wurde es plötzlich zu einem Gegenstand wie alle anderen. Ein Schallplattenspieler war kein gutes Gerät. Es brachte den Menschen dazu, sich immer wieder dieselben Lieder vorzuspielen. Abschaffel fragte sich, ob er frische Bettwäsche aufziehen sollte. Wie lange hatte ihn niemand mehr besucht. Beim Umhergehen in der Wohnung hatte er plötzlich einen zierlichen und gemütvollen Einfall. Er legte einige Münzen auf die Heizung, und wenig später, als sie warm geworden waren, steckte er sich die Münzen in die Hosentaschen, so daß er zwei Minuten lang glaubte, er hätte kleine Heizungen in der Hose. Das Vergnügen darüber war so groß, daß er kichern mußte. Er kicherte allein in seiner Wohnung, und es fiel ihm auf. Er stellte das Kichern ein und öffnete das Fenster. Er war wieder an dem Punkt angelangt, wo er ganz deutlich spürte, wie allein er war.
    Wahrscheinlich mußte er bald die Wohnung verlassen an diesem Morgen, um einer Verhärtung dieser Gefühle zu entgehen. Es war alles zuwenig, es war alles zu eng, es war alles zu still. Zum erstenmal seit drei Tagen fiel ihm ein, daß er nicht arbeitete. Das Wohnen in diesem Zimmer war vielleicht nur gut für jemanden, der abends müde nach Hause kam. Ein richtiger voller freier Tag in diesem Zimmer wurde zu einer Gemeinheit. Abschaffel machte sich fertig zum Weggehen. Es war erst kurz nach zehn Uhr, und er beschloß, seine nähere Wohngegend anzuschauen. Hier wohnten Tausende und Abertausende von Arbeitern und Angestellten. Abschaffel ging an den Häusern vorbei und hatte wieder das Gefühl, in jeder dieser vielen tausend Zwei- oder Drei-Zimmer-Wohnungen schon einmal kurz gewohnt zu haben und alles zu kennen. Dieses Gefühl gefiel ihm, es war ein Gefühl der Zugehörigkeit und Heimatlichkeit. Er hatte es schon oft gehabt, und er wußte von seinem weiteren Verlauf. Denn es hielt nicht lange an; es wandelte sich um in sein Gegenteil. Dann glaubte er, überhaupt nichts zu wissen und auch nie irgend etwas erfahren zu haben. Ewig mußte man in vollständiger und beschlossener Fremdheit und Unwissenheit herumlaufen, so sprach dieses Gefühl zu ihm. Dann wurde er wütend, weil er sich nichts mehr vorstellen zu können glaubte vom Leben in den kleinen Wohnungen. Dann hatte er Lust, die eigentlich eine Wut war, mit einem Radiergummi persönlich ein ganzes Haus wegzuradieren, nur damit er sehen konnte, was alles sich in diesem Haus verbarg und aus welchen Materialien es bestand. Seine Radiergummisehnsucht war nichts anderes als seine übliche Sehnsucht nach dem Absoluten und Unerreichten. So genau, wie er es wollte, würde er nie ein Haus und seine Bewohner sehen können. Statt dessen betrat er ein Geschäft und sah sich die Einrichtung dieses Geschäfts an. Es war so, als wenn ein Kind sagte, es wolle unbedingt sofort nach Amerika fahren, statt dessen aber nur

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