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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Personen an irgendwelchen Stränden zu liegen, aber er wurde seiner Distanz nicht froh. Am stärksten beunruhigte ihn, daß er, was das Urlaubsproblem betraf, immer mehr seinem Vater ähnelte, der in den letzten zwanzig Jahren auch nicht mehr in Ferien gewesen war. Aus Ängstlichkeit und Verstocktheit hatte es der Vater nicht mehr gewagt, in einen fremden Ort zu gehen, und Abschaffel hatte den Vater deswegen verspottet. Er hatte nur nicht rechtzeitig bemerkt, daß er, während er vor Jahren den Vater verhöhnt hatte, selbst schon begonnen hatte, nicht mehr in Urlaub zu fahren. Außerdem kränkte ihn, daß er gar nicht sicher war, ob es denn wirklich sein Stolz und seine Scham waren, die ihn am Urlaubmachen hinderten. Aber was war es sonst? Er glaubte, daß zwischen ihm und den anderen ein grundsätzlicher Unterschied war. Die anderen machten einfach alles, was ein Mensch machen konnte; sie heirateten, machten Kinder, fuhren in Urlaub, feierten Weihnachten und besuchten mit ihrer neuen Familie ihre alte Familie, ihre Eltern. Und wie schäbig, künstlich und erbarmungswürdig auch alles sein mochte, es gefiel ihnen. Es gefiel ihnen sogar so sehr, daß es zum Programm ihres Lebens wurde. In diesem Jahr wurde für ihn wahrscheinlich alles noch komplizierter, weil er Margot kannte, nun schon seit mehr als einem halben Jahr. Sie hatten noch nicht über das Thema Urlaub gesprochen, aber er war sicher, daß sie ihn bald darauf ansprach. Oder sie wartete schon seit Wochen darauf, daß er davon anfing. Irgend etwas hinderte ihn daran, sich vorzustellen, wie er mit Margot im Meer badete, sie im Bikini, er in der Badehose, und wie sie zu ihrer Decke zurückkehrten und sich abtrockneten und zu anderen Urlaubern sagten: Heute ist das Wasser warm. Und wie die anderen Urlauber antworteten. Gestern war es nicht so warm.
    Darüber geriet er schon wieder in Panik. Es war kurz vor achtzehn Uhr geworden, und er wollte noch etwas einkaufen. Die Urlaubspanik hatte ihn leer und ratlos gemacht. Am liebsten hätte er sich drei Monate vom Leben zurückgezogen und sich im September zurückgemeldet. Aber wer einmal lebte, mußte es ununterbrochen tun. Er war froh, daß heute wenigstens Donnerstag war. Das bedeutete, daß sowohl Margot als auch er am folgenden Tag arbeiten mußten, und das bedeutete, daß Margot nicht bei ihm übernachtete. Sie hatte die Angewohnheit, einen Arbeitstag von ihrer Wohnung aus zu beginnen. Nur wenn sie am nächsten Tag frei hatte, wollte sie bei ihm übernachten und am folgenden Morgen mit ihm ausführlich frühstücken. Er schätzte es nicht, wenn sie gleich ein ganzes Wochenende lang bei ihm blieb. Wenn er Samstag und Sonntag mit ihr zusammen gewesen war, hatte er sich bis jetzt noch jedesmal überfordert gefühlt. Margot redete zuviel, und dann wußte er sich nicht mehr zu helfen. Er war sogar schon mit ihr spazierengegangen, um ihr Reden besser ertragen zu können. Im Freien war er nicht gezwungen, ihr ins Gesicht zu sehen; er ordnete ihr Sprechen dann ein als ein Element des allgemeinen Geräuschs, das immer um alle Menschen herum war. Wenn sie bei ihm zu Hause war, war er zu oft damit beschäftigt, den Eindruck zu erwecken, er höre ihr zu, während er es in Wirklichkeit nur aushielt, wenn sie am Reden war. Margot wählte nicht aus, was sie sagen wollte, sondern sie schien alles gleich von sich wegzureden, was ihr in den Kopf kam. Häufig hörte sie auch mitten in einer Erzählung auf, etwas zu Ende zu erzählen, weil sie doch noch erkannt hatte, daß eine Mitteilung den Aufwand des Sprechens nicht lohnte. Aber es schien ihr nichts auszumachen, daß eine nur halb erzählte Mitteilung wie eine Art Müll zwischen ihr und ihm übrigblieb. Einmal morgens, als sie sich in seinem Badezimmer die Zähne putzte, sah sie zwei Zahnpastatuben zugleich auf dem Badebord liegen, eine nahezu leer gedrückte und eine vollkommen neue, eben erst gekaufte Tube. Der Anblick der beiden Tuben veranlaßte sie, aus dem Bad herauszurufen: Bist du ein Zahnpastatubenfetischist? Er antwortete nicht. Er war kein Zahnpastatubenfetischist. Er hatte sich eine neue Tube Zahnpasta gekauft und die alte nicht sofort weggeworfen, weil sie für einmal Zähneputzen vielleicht noch ausreichte, das war alles. Er schwieg einfach und wartete, bis es vorüber war. Dauerte es lang, wenn sie am Reden war, dann hatte er sich schon manchmal gewünscht, Margot nicht mehr zu sehen und nicht mehr zu hören. Er wußte von den Dingen der Welt nicht mehr als

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