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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Margot, im Gegenteil, vielleicht sogar noch weniger als sie. Aber er plauderte seinen Notstand nicht aus. Ängstlich behielt er für sich, daß er kaum etwas wußte und sich nicht auskannte in der Welt. Und er erwartete im stillen, daß Margot sich auch so verhielt, und jedesmal war er von neuem enttäuscht, wenn alles anders kam. Er verließ sie nicht, er machte ihr noch nicht einmal Vorwürfe. Er schlief gerne mit ihr. Immer wieder freute er sich darauf, wenn sie sich, nach einer oder zwei Stunden dürrer Unterhaltung, ins Bett legten. Fast jedesmal saugte sie lange an seinem Geschlecht. Das war nicht sehr ungewöhnlich, aber es war auch nicht selbstverständlich. Er hatte es im Zusammensein mit Frauen, zuletzt mit Frau Schönböck vor fast einem Jahr, schon oft erlebt. Aber neu war bei Margot, und das hatte er zuvor niemals erlebt, daß sie mit dem Mund so lange an seinem Glied blieb, bis es ihm kam. Als es zum erstenmal geschah, hatte er lange gar nicht verstanden, daß sie es so weit kommen lassen wollte. Mundverkehr war bis dahin in seiner Vorstellung etwas Undurchführbares gewesen. Er hatte sich kein Bild davon machen können, was eine Frau tun sollte, wenn ihr Samen in den Mund floß. Margot verschluckte ihn. Als es zum erstenmal geschehen war, war er aus Verwunderung sogar eine Weile niedergeschlagen, weil er nicht mehr damit gerechnet hatte, daß es noch etwas geben könnte, was er sich immer wieder wünschen würde. Er hatte genug damit zu tun, sich seiner gewöhnlichen Wünsche zu erwehren, und nun auch das noch. Leider verschaffte ihm das, was ihm gefiel, auch ein schlechtes Gewissen. Tief im Innern empfand er sein Verhältnis zu Margot als flau, manchmal sogar niederträchtig. Wenn es so weiterging, konnte es passieren, daß der Mundverkehr der einzige Grund wurde, weshalb er weiter mit Margot zusammenblieb. Er glaubte manchmal, er hätte noch andere Gründe, Margot zu mögen. Es gefiel ihm ihre Erscheinung, ihre Art, sich zu kleiden. Sie war hübsch. Er freute sich an ihrem Bild. Aber jedesmal, wenn er sich dies beruhigend sagte, empfand er zugleich, daß es nicht wahr sein konnte. Vielleicht war er nur erschüttert darüber, daß er einmal nicht enttäuscht worden war. In seiner Phantasie hatte er Margot schon oft so weit abgewertet, daß nichts mehr von ihr übriggeblieben war und es leicht gewesen wäre, sich von ihr zu trennen. Aber dann kam von ganz weit her die Erinnerung an den Mundverkehr und machte wieder alles rückgängig. Üblicherweise erhielt Abschaffel sein Gleichgewicht durch das Auf und Ab zwischen Wunschentfaltung und Wunschenttäuschung. Abschaffel züchtete seine Wünsche in die Höhe, und das war seine Stärke. Er war überzeugt davon, daß der Hauptvorgang des Lebens die permanente Desillusionierung war. Deswegen mußte er glücklich sein, wenn die großen Wünsche immer wieder unerfüllt blieben: Das stärkte die Sehnsucht. Immer dann, wenn Margot mit einer rätselhaften Anteilnahme über sein Geschlecht gebeugt war, dann hatte er etwas, was weder besser zu wünschen noch besser zu haben war. Es war ihm vergönnt, im Zustand einer Wunscherfüllung verharren zu können. Auf keinem anderen Gebiet seines Lebens hatte sich etwas Ähnliches bisher ereignet. Die Unbegreiflichkeit dieser Ausnahme erfüllte ihn mit Rührung und Unglauben.
    Es fiel ihm auf, daß er heute, während er nach Hause ging, zweimal vor etwas geflüchtet war, einmal vor dem Autogespräch in der Firma, zum anderen vor seiner eigenen Urlaubspanik, und daß er soeben dabei war, zum drittenmal vor etwas zu flüchten, was noch gar nicht angefangen hatte: vor dem Abend mit Margot. Und weil sein Heimweg aus Fluchten bestand, fühlte er sich leer und fließend, es war, als würde sein Körper auslaufen, unten an den Füßen vielleicht, und er selbst würde dabei zuschauen. Er blieb sogar ein paar Augenblicke stehen, weil er die Hoffnung hatte, dadurch das Gefühl der Festigkeit wiederzuerlangen. Er erlangte nichts wieder, und da kam er auf die Idee, im Supermarkt, wo er ohnehin noch einkaufen wollte, etwas mitgehen zu lassen. Er klaute nur, wenn er sich selbst als nicht mehr richtig vorhanden fühlte, wenn nichts in ihm vorging und er den Anschluß an irgendein Gefühl erreichen wollte. In diesen Zuständen war das Stehlen eine Hilfe. Es war, als würde man mit einem Stock auf einen völlig verstaubten Teppich schlagen. Dann war wiederzuerkennen, daß es sich um einen Teppich handelte. Weil nichts geschah, ließ er

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