Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
Vom Netzwerk:
einen kleinen Diebstahl geschehen, dann war alles nicht mehr so leer. Die Annehmlichkeit eines Diebstahls war nicht sofort zu spüren. Noch jedesmal, wenn er etwas eingesteckt hatte, begann er zu zittern, und dies sogar dann, wenn er vollkommen sicher war, daß er nicht beobachtet worden war. Dies war die Phase unmittelbar nach der Tat; sie lief nicht auf eine Stärkung, sondern, im Gegenteil, auf eine weitere Schwächung seiner Person hinaus. In diesen Minuten nach der Tat stellte er sich sowohl das sichere Entkommen als auch die ebenso sichere Entdeckung vor. Diese Spannung war kaum auszuhalten. Einmal mußte er sogar auf der Straße in ein Weinen ausbrechen, weil sich die Spannung nicht mehr anders lösen konnte. Die Spannung brachte es auch mit sich, daß er sich selbst, in seinem Verhalten, als Dieb kennzeichnete. Dieses nervöse Umherflackern des Blicks, die Neigung, in allen Leuten geheime Mitwisser zu vermuten, die nur den richtigen Augenblick zum Verrat abwarteten, und die reuige Lust, den gestohlenen Gegenstand wieder in das Regal zurückzustellen. Die Anstrengung, nicht als Dieb zu erscheinen, lief groteskerweise gerade auf eine Betonung der diebischen Erkennungszeichen hinaus. In diesem Durcheinander zwischen Verhalten und Sein war er schon so geschwächt worden, daß er vorübergehend überzeugt war, bei nächster Gelegenheit hinzufallen. Aber am Grunde der Schwächung meldete sich dann der Genuß des Gefühls, sich selbst wiederzuhaben, sich selbst wieder als vorhanden zu fühlen.
    An diesem Feierabend war es kurz vor Ladenschluß, als er den Supermarkt betrat. Es war seine Lieblingsstunde für das Stehlen. Die Verkäuferinnen waren müde und kaum noch richtig da. Sie waren genau in der Verfassung, die bei Abschaffel manchmal zu Diebstählen führte. Der Filialleiter lief aufräumend mit leeren Pappkartons durch die Gänge. Er war so abwesend, daß Abschaffel auf die Idee kam, einmal unmittelbar vor seinen Augen etwas einzustecken. Es war nicht sicher, ob er es bemerkte. Abschaffel wollte sich einen neuen Rasierapparat mitnehmen. Zweimal hintereinander hatte er sich Rasierapparate gekauft, und beide waren in kurzer Zeit kaputt. Er brauchte wieder einen Rasierapparat aus Stahl (die beiden anderen waren aus Kunststoff). Tatsächlich fand er in der Kosmetikabteilung sehr gut aussehende Metallapparate. Er nahm einen davon in die Hand, und er erschrak, als er sah, daß diese unauffälligen gewöhnlichen Rasierapparate zwölf Mark das Stück kosteten. Es war leicht, den Apparat in der Tasche verschwinden zu lassen. Die Kosmetikabteilung lag etwas abgewinkelt und konnte von anderen Gängen nicht eingesehen werden. Er begann zu zittern und ging auf den Ausgang zu, vielleicht ein wenig zu eilig, aber es fiel nicht auf, weil seine Eile auf den bevorstehenden Ladenschluß bezogen werden konnte. Trotzdem strengte er sich an, langsamer zu gehen. Dies und das kaufte er noch ein für den Abend mit Margot. Eine Frau stieß mit ihrem Einkaufswagen an den Einkaufswagen einer anderen Frau. Beim Klang des leichten Aufpralls zuckten die Frauen zusammen. Oh, Entschuldigung, sagte eine der beiden Frauen und streichelte den angerempelten Einkaufswagen mit leicht zusammengekrümmter Hand. Aus Langeweile und Neugierde kaufte Abschaffel ein Reinigungsmittel mit Zitronengeschmack. Daß es ihm möglich war, über dieses Reinigungsmittel nachzudenken, nahm er als gutes Zeichen. Herrschte in den Häusern ein tiefes, verschwiegenes Wissen über die allgemeine Langeweile und waren Zitronen in den Putzmitteln eine Maßnahme gegen diese Langeweile? Abschaffel war nicht mehr weit weg von der Kassiererin. Es zitterten seine Beine und seine Hände, aber er war sicher, nicht gesehen worden zu sein. Die Kassiererin bewunderte gerade das Baby einer Kundin, er sah es und war beruhigt. Wenn er gesehen worden war, mußte sein Beschatter auf jeden Fall warten, bis Abschaffel an der Kasse vorbei war. Die Kassiererin hatte seine paar Sachen rasch eingetippt. Er zahlte, und es fehlten ihm noch drei Schritte zum Ausgang. Wenn in diesen Augenblicken jemand seinen Arm ergriff, war er erwischt. Aber es hielt ihn niemand fest, und Abschaffel war draußen.
    Er trug seine Sachen in einer Plastiktüte nach Hause. Schon nach dreißig Metern spürte er die Erleichterung. Das Zittern hörte auf, die Aufregung wich, und dieses Entweichen der Erregung war der Genuß des Diebstahls. Er lief ganz weich und geriet in eine freundliche Stimmung. Er glaubte, getragen

Weitere Kostenlose Bücher