Abschaffel
zu werden. Langsam ging er die Treppen zu seiner Wohnung hoch, und er brauchte länger als sonst, bis er mit dem Schlüssel das Schlüsselloch seiner Wohnungstür gefunden hatte. Die allgemeine Verlangsamung war die letzte Phase des Diebstahlgefühls. Sie dauerte nur kurz, höchstens drei oder vier Minuten. Abschaffel spürte schon, als er seine Wohnung betrat, das baldige Ende der vorübergehenden Erleichterung. Genaugenommen empfand er Furcht vor dem Betreten seiner Wohnung. Vielleicht gab es nichts Seltsameres als eine Wohnung, die den ganzen Tag leer stand und am Abend von einem zurückkehrenden Menschen wiederbelebt werden mußte. Manchmal hatte er schon von der Firma aus in seine eigene, leere Wohnung hinein telefoniert. Natürlich nahm niemand ab, es war ganz sicher, daß niemand den Hörer abnehmen konnte, und trotzdem hatte er manchmal die Vorstellung, es müßte selbstverständlich jemand abnehmen. Hinterher war er über sich selbst verwirrt. Erst hielt er sich für verrückt, dann sagte er sich: Ich mache das aus Spaß und Langeweile. Es war auch schon vorgekommen, daß er, an seiner Haustür stehend, bei sich selbst klingelte und wartete, ob ihm nicht von innen geöffnet werde. Er stand dann wie ein Besucher an der Haustür, die Hand am Türknauf, und wartete einige Augenblicke. Dann, als ihm nicht geöffnet wurde, holte er seine Hausschlüssel aus der Tasche und ging in das Haus. Ein anderes Experiment war das Vorbeifahren in der Straßenbahn an der eigenen Haustür. Es war die Linie 18, die an seiner Haustür vorbeifuhr, und er stieg drei Stationen vorher ein, und während des Vorbeifahrens blickte er auf die geschlossene Haustür. Er wollte an der Tür vorüberkommen, in die er sonst immer hineinging. Zwei Stationen weiter stieg er gewöhnlich aus und lief zu der Haustür zurück. Gewöhnlich schämte er sich ein wenig nach diesen Experimenten, und fast jedesmal dachte er: Wie entsetzlich wäre es, wenn ich diese Verhaltensweisen jemand erklären müßte.
Sofort schoben sich, als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, die bekannten Gegenstände in seinen Blick. Zum Beispiel das Kissen auf der Bettcouch. Seit Jahren drückte er es sich unter den Kopf, wenn er sich ein wenig hinlegte, und seine leicht und schnell fettenden Haare hatten in der Mitte des Kissens schon lange einen grauen Fleck hinterlassen. Der Bezug des Kissens war rätselhafterweise nicht abnehmbar. Das Kissen hatte keinen Reißverschluß und keine Knöpfe. Konnte man denn ein ganzes Kissen in die Reinigung geben? Das hatte Abschaffel noch nie gesehen und noch nie gehört. Aber andererseits war der Bezug vom Kissen nicht zu trennen. Fast jeden Abend, wenn er die Wohnung betreten hatte, fragte er diesen toten Gegenstand mit stummen Blicken, was er mit ihm machen sollte, damit er wieder sauber wurde. Das Kissen einfach wegzuwerfen, traute er sich nicht. Es blieb alles, wie es immer war. Abschaffel bewegte sich von einem ungeklärten Vorgang zum nächsten, ohne etwas erledigen zu können. Dazu gehörte auch der Blick auf den Balkon und die abermalige Entdeckung eines Pappkartons, der seit Wochen draußen lag. In dem Pappkarton hatte er einmal Lebensmittel nach Hause getragen, weil dem Supermarkt die Plastiktüten ausgegangen waren. Der Karton war schon öfter vom Regen aufgeweicht, wieder getrocknet und durch neuen Regen wieder aufgeweicht worden. Er hatte seine Form als Karton weitgehend verloren und lag als deformiertes Stück in einer Außenecke des Balkons. Manchmal stieß ein Windstoß in das Balkonrechteck und blies ihn in eine andere Ecke. Seit Wochen konnte sich Abschaffel nicht dazu durchringen, den Pappkarton in den Mülleimer zu werfen. So präzise wollte er sich mit dem Alltag nicht einlassen. Das hätte ja ausgesehen, als wäre er ein Mann, der an seinem Feierabend einen leeren Karton in einen Mülleimer wirft.
Er ging in die Küche zurück, um die eingekauften Sachen auszupacken und etwas zu essen. Sorgfältig entfernte er die Preisschildchen an den Lebensmitteln: Das machte die Dinge heimisch. Während er die Lebensmittel auf einem Hochbord und im Eisschrank unterbrachte, begann er zu essen. Er überlegte nicht mehr, was er am liebsten essen wollte, sondern er aß so, daß angebrochene Packungen möglichst ganz leer wurden. Er aß einen Rest Wurst, der schon tagelang im Eisschrank gelegen hatte, dazu etwas Käse und Brot. Die Kruste des Brots schnitt er weg und warf sie in den Mülleimer. Er wollte heute nur den weichen
Weitere Kostenlose Bücher