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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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nur einige Tage da und verschwanden dann wieder, als sie merkten, wie hart die Arbeit war. Es gab nur wenige, die länger blieben, zum Beispiel Sergio, der es sogar zum Vorarbeiter gebracht hatte. Ronselt gefiel es, die Arbeiter laut anzusprechen, wenn er Spätdienst hatte, obwohl es offensichtlich war, daß den Ausländern die Arbeit gleichgültig war. Wenn es Auseinandersetzungen gab, redeten sie sich gewöhnlich damit heraus, daß sie nichts von dem verstünden, was man ihnen sagte. Ronselt hatte den Verdacht, daß sie viel mehr verstanden, als sie zugaben. Wieviel sie wirklich verstanden, war ein beliebtes Thema im Büro. Abschaffel glaubte, daß sie nur wenig verstanden. Er meinte, daß sie deswegen so wenig lernten, weil die deutschen Arbeiter selbst kaum richtig miteinander sprachen. Unter den deutschen Arbeitern herrschte eine Art Brutalsprache, die sowohl knapp als auch klar war, wenn man davon ausging, daß kaum etwas im Leben der Rede wert war. Die beiden häufigsten Ausdrücke in dieser Brutalsprache hießen SCHEISSE und ALLES KLAR . Und tatsächlich wurden diese beiden Ausdrücke, weil sie so oft wiederholt wurden, von den ausländischen Arbeitern korrekt weiterverwendet. Aber Abschaffels Auffassung verbreitete sich nicht unter den Angestellten. Allgemein geläufig war die Vorstellung, daß die Ausländer aus Faulheit und Boshaftigkeit sich der deutschen Sprache verweigerten. Als Ausnahme galten die Italiener; tatsächlich nahmen sie viele deutsche Worte an, wenn auch in veränderter Form. Aus dem Wort Steuerkarte machten sie das Wort STEUERCARTA , und in schwierigeren Fällen, wie etwa bei Krankenkasse, übernahmen sie aus dem Deutschen die erste Hälfte KRANK , aus dem Italienischen behielten sie das Wort CASSA bei, so daß aus dem deutschen Wort Krankenkasse bei den Italienern Krankassa wurde. Das Wort KRANKASSA war eine Zeitlang so beliebt gewesen, daß sogar die Angestellten es übernahmen und jedesmal gelacht wurde, wenn es jemand aussprach.
    Abschaffel kam aus der Halle zurück und setzte sich an seinen Schreibtisch. Bis zum Feierabend fehlte noch wenig mehr als eine Dreiviertelstunde. Der ganze Tag war sommerlich heiß gewesen. Wenn die nackten Unterarme von den Schreibtischen hochgenommen wurden, gab es jedesmal ein klebrig ziehendes Geräusch. Ronselt war in der Mittagspause in der Stadt gewesen und hatte sich einen Bademantel gekauft. Für neununddreißig Mark, sagte er. Der niedrige Preis war der Grund für die plötzliche Anschaffung gewesen. Seine Frau hatte die billigen Bademäntel am Tag zuvor in der Stadt entdeckt und es ihrem Mann gesagt. In einer großen Plastiktüte verpackt, lehnte der Bademantel an seinem Schreibtisch. Zum erstenmal in meinem Leben besitze ich einen Bademantel, hatte er gesagt. Er hatte seine Jacke ausgezogen und den Bademantel im Büro vorgeführt. Für neununddreißig Mark! rief er und lief ein paar Schritte auf und ab. Ronselt im blau-weiß gestreiften Bademantel. Die Lehrlinge hatten gekichert und einige Frauen vertraulich-freundlich gelacht. Der Abteilungsleiter Sammelausgang war zu Späßen aufgelegt. Ronselt, der Frühstückschampion, hieß es plötzlich hinten links im Büro, und Ronselt zog den neuen Bademantel wieder aus. Er hatte sich schnaufend gesetzt und sagte: Ich verstehe nicht, daß diese Dinge so billig sind. Die Bademäntel waren herabgesetzt, von fünfundneunzig auf neununddreißig. Diese Preise stehen in keinem Verhältnis mehr zu den Preisen, die man für die wirklich notwendigen Dinge im Leben bezahlen muß, oder? Wenn ein Bademantel neununddreißig Mark kostet, dann ist es unmöglich, daß ein Viertel Butter eine Mark achtzig kostet oder, noch unmöglicher, eine einzige U-Bahn-Fahrt eine Mark dreißig. Meine U-Bahn-Monatskarte kostet mich jetzt vierundsechzig Mark, erklärte er, das ist so teuer, daß ich gar nicht verstehen kann, daß man für hundertachtzig nach London fliegen kann und wieder zurück. Das muß man sich einmal vorstellen! hatte er ausgerufen. Den Flug, drei Tage Hotel mit Frühstück für hundertachtzig Mark, das gibt es. Aber so ist das eben in diesem Staat, sagte Ronselt. Alle, die mehr haben als das unbedingt Notwendige, leben relativ gut und billig, aber die, die gerade so eben auskommen, für die wird ein Viertel Butter fast zu einer Anschaffung. Das Einfachste ist das Teuerste bei uns, sagte er; im Ostblock ist es genau umgekehrt. Die lebensnotwendigen Dinge sind dort sehr billig, also Essen und Wohnen, und jeder Luxus

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