Abschaffel
wieder aus. Trotzdem war Abschaffel erschrocken. Das Gesetz war geheimnisvoll. Wer seinen Zugriff bei anderen beobachtet hatte, fühlte sich schon selbst schuldig. Und wer nichts begangen hatte, mußte hinterher das Gefühl ertragen, dennoch bei etwas erwischt worden zu sein. Schon der Anblick eines Polizisten war eine Anspielung auf eigene Schuldbereitschaft. Wie leicht ist es, alle und sich selbst immerzu schuldig zu halten, dachte er ganz weich und aufgelöst im Kopf.
Er wollte, als er aus der U-Bahn stieg, rasch nach Hause. Vorher noch zwei Flaschen Rotwein kaufen, das war alles. Aber der Supermarkt an der Ecke, der gewöhnliche, seit Jahren unauffällige Supermarkt, war geschlossen. Abschaffel ging näher heran an die Schaufenster, die von hinten mit grauem Papier abgedeckt waren. An zwei Stellen der Schaufensterfront stand groß geschrieben: HIER ERÖFFNET SCHUSSLER & ROTT DEMNÄCHST EINE NEUE FILIALE! Der Supermarkt war verkauft worden, und die neuen Besitzer bauten den Laden zur Zeit um. Innen war Licht, und Abschaffel ging mit dem Gesicht nahe an die Schaufenster heran. Und er sah durch einen freien Spalt eine ganze Mannschaft von Umgestaltern bei der Arbeit. Offenbar wollten Schussler & Rott alles anders machen. Unerklärlicherweise fühlte sich Abschaffel dadurch ein wenig niedergeschlagen. Er ging weiter, weil er den Rotwein woanders kaufen mußte, und beim Weitergehen bildete er sich ein, mitschuldig am Verkauf des Supermarktes zu sein. Es war ihm eingefallen, daß er in dem alten Supermarkt öfter gestohlen hatte, und er glaubte für ein paar Minuten, der vorige Besitzerkonzern habe den Supermarkt nur deswegen verkauft, weil sie gegen die Diebstähle keine Handhabe mehr gewußt hatten. Er stellte sich tatsächlich vor, wie der Filialleiter vor den Konzern zitiert worden war und wegen der laufenden Diebstähle zurechtgewiesen wurde. Abschaffel brauchte drei Minuten, bis er diesen Gedanken wieder zersetzt hatte, und er brauchte weitere drei Minuten, bis er seine Zersetzung glaubwürdig fand. Das bißchen Kaffee, die eine oder andere Flasche Cognac oder die Zahnpasta, die er in großen Abständen hatte mitgehen lassen, konnten doch einen Supermarkt nicht ruinieren. Lächerlich, sagte Abschaffel laut auf der Straße, wie lächerlich. Oder vielleicht doch nicht? Immerhin mußte er annehmen, daß viele Kunden klauten, und wenn nur die Hälfte von ihnen so geschickt war wie er selber, fehlten jeden Tag sicher hundert Mark, vielleicht sogar mehr. Über diesen Gedanken zog das Schuldgefühl wieder zur Hälfte in ihn ein. Es war sehr unangenehm, zur einen Hälfte etwas zu glauben, zur anderen Hälfte auch wieder nicht.
In einem kleinen Geschäft hatte er zwei Flaschen Rotwein gekauft und war sein Schuldgefühl immer noch nicht los. Er sah Hauswände hoch und wieder herunter, und kurz bevor er nach Hause kam, sah er einen kleinen, wohl kranken, offenbar nur heute zu Hause gebliebenen Schuljungen im Schlafanzug auf einem Fensterbrett sitzen. Er saß dicht hinter der Scheibe und sah auf die Straße herunter. Das gefiel ihm gut. Um auf andere Gedanken zu kommen, nahm er sich vor, sich demnächst selbst auf ein Fensterbrett seiner Wohnung zu setzen und auf die Straße zu schauen. Allerdings müßte es dann in der Wohnung gut warm sein. Und hatte er denn einen solchen Schlafanzug, wie der Junge einen gehabt hatte? Abschaffel schlief gewöhnlich in seiner Unterwäsche. Sollte er sich einen Schlafanzug kaufen oder nicht? Tatsächlich gelang es Abschaffel, sich mit solchen Überlegungen aus seinem eigenen Schuldvorwurf herauszuhalten.
Margot kam kurz vor acht. Er hatte ein paar Oliven auf den Tisch gestellt, einen Kanten weichen Käse, etwas Weißbrot und eine brennende Kerze. All das hatte er von ihr gelernt, und als sie das Arrangement auf dem Tisch sah, freute sie sich. Für eine halbe Stunde gelang es ihm sogar, Freude an der Unterhaltung mit ihr zu haben. Sie erzählte von ihren Eltern und Geschwistern. Während es ihm noch gefiel, was sie erzählte, fürchtete er bereits, daß es ihm gleich nicht mehr gefallen könnte. Er spielte in der Hosentasche mit einer Büroklammer, er bog sie auseinander und wollte das nun gerade gebogene Stück Draht um seinen Zeigefinger wickeln, und an der Intensität, mit der er sich diesem Vorgang widmete, konnte er leicht bemerken, daß sein Interesse an der Unterhaltung bereits am Verschwinden war. Dabei war es erst halb zehn, und die Vorstellung, daß Margot vielleicht noch eine
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